Leider war das noch nicht alles und nicht einmal das Schlimmste. Aller guten Dinge sind drei, unkte mein Kollege Helmut, und genauso kam es. Das dritte ‚Ding‘ war alles andere als gut, denn es betraf Gerson.
Gerson, mein Lebenspartner und bester Freund, der zu mir stand in guten und in schlechten Tagen bis zu diesem Zeitpunkt zumindest. Er war der einzige, für den ich im Restaurant ohne zu fragen etwas von der Speisekarte hätte auswählen können und es hätte ihm geschmeckt. Auch damit war es jetzt vorbei.
Sein Geständnis traf mich wie ein Blitz in schwarzer Nacht, obwohl ich mir eingestehen musste, dass sich die Katastrophe schon länger angekündigt hatte. Ich hatte die Zeichen einfach nicht erkannt. Die Neue hieß Cora, sie wollte ein Kind von ihm, Pferde ließen sie kalt, das änderte alles.
Sie war Gersons Assistentin, zehn Jahre jünger als ich, klein und pummelig, aber unglaublich schlagfertig und witzig. Ein Kind, hämmerte es hinter meinen Schläfen. Gerson und ich hatten uns nie ernsthaft Gedanken über eigene Kinder gemacht, und wenn er das Thema ein- oder zweimal angeschnitten hatte, dann hatte er es schnell wieder fallen lassen. Doch jetzt musste ich mir eingestehen, dass ich ihn nie nach seinen Wünschen gefragt hatte. Ich hatte ganz selbstverständlich angenommen, dass er meine Pferdeleidenschaft verstand, weil ihm klar war, dass die Pferde bei mir an erster Stelle standen.
Auf einmal fügte sich eins zum anderen: Seine langen Fotosafaris in der Camargue, die Anrufe zu allen möglichen und unmöglichen Tages-und Nachtzeiten, seine plötzlichen Aufbrüche, wenn wir gerade die vorletzte Flasche Ulisses Lima öffnen wollten. Zugegeben, was unsere Verabredungen anging, war ich auch nicht gerade zuverlässig gewesen; Nine hatte nur zu oft unsere gemütlichen Abende durcheinandergebracht, weil sie eine Kolik oder Husten hatte und ich im Stall auf den Tierarzt warten musste. Wenn ich weg musste, kümmerte er sich um Maxi. Nicht nur, weil er sich verpflichtet fühlte, sondern weil er es gerne tat und die beiden sich mochten.
Sie war elf, als sie zu uns kam. Eigentlich hieß sie Jaqueline, ein Name, den sie hasste, weil sie alle Leute auf dem Leierhof und in der Schule ‚Schackeline‘ riefen. Sie nannte sich Maxi, eine kleine, stämmige Person, mit dunklen, mandelförmigen Augen, die ihr in manchen Situationen einen schlangenartigen Ausdruck verliehen. Wenn sie jemand mit ihrem richtigen Namen ansprach, antwortete sie nicht, bis die Leute sie Maxi nannten und Schackeline für immer vergaßen.
Ihre Mutter war Alkoholikerin, sie schickte ihre Tochter zur ‚Tafel‘ zum Einkaufen, ließ sie stundenlang den Hausflur schrubben oder sperrte sie wegen des kleinsten Vergehens in den Keller. Das ließ sich Maxi nicht gefallen, sie entwischte durch das Kellerfenster und flüchtete zu uns in den Stall. Dort fand ich Nine und sie eines Abends aneinandergeschmiegt im Stroh liegen. Von da an kam Maxi regelmäßig, striegelte Nines Fell, kratzte ihre Hufe aus, putzte sogar freiwillig das Sattelzeug. So lange, bis ich ihr Reitstunden gab. Von da an gehörten wir drei zusammen.
Eines Tages stand sie mit ihrem Rucksack vor unserer Wohnungstür. „Kann ich heute Nacht bei euch schlafen?“ Ihre Mutter hatte in einem Wutanfall die ganze Wohnungseinrichtung zertrümmert; die Nachbarn hatten die Polizei gerufen; sie wurde in die Psychiatrie eingeliefert und später zur Entziehungskur geschickt. Maxi hatte erst am nächsten Tag von dem Zusammenbruch ihrer Mutter erfahren, weil sie bei Nine, die einen schlimmen Husten hatte, im Stall übernachtete. Das war ihr Glück, denn wenn sie zuhause gewesen wäre, wäre sie vermutlich gleich im Heim gelandet. Aus einer Nacht wurden zwei, dann drei – sie blieb eine ganze Woche und dann war klar, dass ihre Mutter so bald nicht wieder zurückkäme.
Maxi wurde unsere Pflegetochter. Wir richteten für sie unser kleines Gästezimmer her, das den Anforderungen des Jugendamtes entsprach. Es war ihr erstes eigenes Zimmer, das sie sich so gestalten durfte, wie es ihr gefiel. Gerson schenkte ihr eine kleine Kamera und brachte ihr das Fotografieren bei, sie tapezierte die Wände mit selbstgeschossenen Fotos von Nine und später auch von Alles Paletti. Sie sog alles gierig auf, was wir ihr boten – abends nach der Arbeit spielten wir zu dritt Federball auf der Neckarwiese oder machten Fahrradtouren am Neckarufer entlang. Manchmal packten wir ein Picknick ein und wanderten auf den Heiligenberg zur Michaelsbasilika. Wenn wir zusammen Nines Box ausmisteten oder Jakobskreuzkraut auf der Koppel ausrissen, erzählte ich ihr Geschichten aus meiner Kindheit; so wuchsen wir mehr und mehr zusammen und jeder, der uns sah, hielt uns für eine richtige Familie.
Vielleicht hatte es damals schon angefangen, ganz sicher sogar, aber das hatte ich einfach nicht bemerkt.
Ich wünschte Cora zur Hölle, nannte sie insgeheim eine dicke, dumme Pute und reihte ein Klischee ans andere. Sie war nicht einmal Reiterin! Aber was hätte das geändert? Bestimmt nichts. Gerson zog Hals über Kopf aus unserer gemeinsamen Wohnung aus, weil er für Cora und sich eine neue Wohnung gemietet hatte. Fahrten zu Ikea, Kinderzimmer zusammenbauen, Schwangerschaftsyoga, mir wurde schlecht bei dem Gedanken. Als er seine Habseligkeiten ausgeräumt und seine Bücher, Fotos und Kameras von den Regalen genommen und mir seinen Schlüssel ausgehändigt hatte, sagte er: „Wir bleiben in Verbindung, Vera.“ Ich schluckte meine Tränen hinunter und schwieg. Er schaute mich kurz an, ich bekam Herzklopfen, es war mir, als ob er mich umarmen wollte, doch er sagte: „Du hast doch Nine und Alles Paletti“, drehte sich um, kam noch einmal zurück und fügte hinzu: „Und Maxi.“
Er hatte es so dahingesagt, um mich zu trösten, und er hatte recht. Ich hatte Maxi. In der Zeit nach der Trennung wuchsen wir noch mehr zusammen. Wir fanden eine kleinere, günstige Wohnung in einem idyllisch gelegenen Gartenhäuschen am Rande des Odenwalds. Wir durften den verwunschenen Garten mit seinen alten Holunder- und Fliederbüschen pflegen und im Herbst Äpfel und Quitten ernten und den Rasen mähen. Maxi war begeistert. „Wir ziehen unser eigenes Gemüse“, sagte sie. Sie ernährte sich hauptsächlich von Grünzeug und Gemüse und arbeitete sich allmählich in vegane Sphären vor. Sie musste jetzt jeden Morgen um 6 Uhr aufstehen, fuhr mit dem Bus zur Schule nach Weinheim und war eine Stunde unterwegs. Freitags nahm sie an den ‚Future Demonstrationen für den Klimaschutz teil, was ihr ermöglichte, länger im Bett zu bleiben. Sie kam jetzt nur noch einmal in der Woche zu Alles Paletti, weil der Leierhof zu weit von unserer neuen Wohnung entfernt lag.
Wenn wir beide abends zu Hause waren, machten wir es uns auf dem Sofa gemütlich. Maxi kuschelte sich in eine Decke, ich setzte mich zu ihr, sie hielt mir ‚Die Abenteuer des Tom Sawyer‘ unter die Nase, die sie beim Auspacken meiner Bücherkiste entdeckt hatte. „Lies mir was vor!“
„Tom – keine Antwort. Tom! – Tiefes Schweigen. Möchte wissen, wo der Bengel wieder steckt! To–om!“ Die Stelle wurde bei uns zum geflügelten Wort; wenn ich Maxi im Stall oder sonst wo suchte oder sie mich, riefen wir zum Spaß ‚Tom!‘ Und wenn sie oder ich nicht gleich auftauchten, fügten wir hinzu: ‚Tiefes Schweigen’, was uns regelmäßig zum Lachen brachte. An diesen Abenden verwandelte sich Maxi in das kleine Mädchen, das sie bei ihrer Mutter nie hatte sein dürfen.
Dass sie nicht wirklich zufrieden war und ihr der tägliche Umgang mit Alles Paletti fehlte, konnte ich gut verstehen. Immer öfter erzählte sie mir, was sie nach ihrem 16. Geburtstag alles machen wollte. Erst einmal fieberte sie ihrem 14. Geburtstag entgegen. Dann wären es nur noch zwei Jahre bis 16 und dann finge das an, was sie das ‚richtige Leben‘ nannte. Sie hatte sich über ihre neuen Rechte informiert und wollte spätestens einen Tag nach ihrem Geburtstag nach Amerika fliegen um auf einer Working Ranch zu arbeiten, den ganzen Tag im Sattel sitzen und den Cowboys helfen. Abgesehen davon kam sie jede Woche mit neuen Ideen, die immer abenteuerlicher wurden. Das letzte Mal hatte sie auf einem Rettungsschiff im Mittelmeer anheuern und Ertrinkende aus dem Meer fischen wollen. Und davor hatte sie sich auf einer Alm in den Schweizer Bergen zusammen mit den Tieren einschneien lassen wollen. Oder sie wollte sich einer radikalen Tierschutzgruppe anschließen, die eingepferchte Schweine befreite. Maxi liebte Geschichten, da waren wir uns ähnlich.
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