„Du könntest Nine in ihre Obhut geben?“, fragte Gerson und setzte sich wieder auf die Bank.
„Über Einzelheiten haben wir noch nicht gesprochen. Ich habe mir immer schon ein Fohlen von Nine gewünscht, aber als Zuchtstute will ich sie nicht abgeben. Iris versteht das, sie will Nine trotzdem mit zu sich nach Montmirail nehmen.“
Iris war kurz nach Margas Tod mit ihren Pferden vom jurassischen Teil des Kantons Bern in das kleine Dorf Montmirail im französischsprachigen Kanton Jura gezogen, in die Franch es Montagne s , die Freiberge, dem Zuchtgebiet der Freiberger Pferde. Sie sprach fließend Französisch, weil ihre Großeltern aus dem Industriestädtchen Tramelan im Jura stammten. Ihr Großvater hatte dort eine kleine Uhrenfabrik mit 20 Arbeitern besessen, lange bevor die Swatch in China produziert wurde. Heute gab es in Tramelan kaum noch Uhrenfabriken, dafür war die Nachbarstadt Saignelegier wieder zum Zentrum der Freibergerzucht geworden. Die Pferdezucht stellte dort einen beachtlichen Wirtschaftsfaktor dar.
„Sag mal – Bellelaye , wo liegt das?“ Gerson zog die Zeitung, auf der er die ganze Zeit gesessen hatte, hervor und blätterte darin, offensichtlich hielt er einen Themenwechsel für angebracht.
„Das ist das Nachbardorf von Montmirail, glaube ich, es gibt dort ein altes Kloster.“
„Das jetzt eine Psychiatrische Klinik beherbergt?“
„Kann sein.“
„Hör dir das an: Unter Vermischtes steht: Pferdemörder gefasst. Unzählige junge Stuten mussten ein blutiges Ende finden, bis der Pferdemörder endlich gefasst wurde. Der 30-jährige Wohnsitzlose, der die Tat gestand, war vor einem Jahr aus der Psychiatrischen Klinik Bellelaye als geheilt entlassen worden. Doch schon nach einem halben Jahr hatte ihn seine schwere Schizophrenie wieder im Griff. Er glaubte, von Pferden, insbesondere von Stuten verfolgt zu werden. Allein im Kanton Bern tötete er 20 Tiere auf grausame Weise.“
„Oh, mein Gott! Nur gut, dass Montmirail im Kanton Jura liegt!“, sagte ich.
„Und dass sie ihn gefangen haben! Das ist doch die Hauptsache, oder? Du, mir wird kalt!“ Gerson rieb sich die Ohren. „Es sieht nach Regen aus!“
Ich schaute zum Himmel. Ein frostiger Wind wehte aus dem Neckartal heraus und hinter der Ernst-Walz-Brücke zogen dunkle Wolken auf. „Ich fahre lieber jetzt schon raus zu Nine und hole die Pferde von der Wiese.“
Gerson hauchte mir ein Küsschen auf die Wange, drehte sich um und machte sich an seinem Mountain-Bike zu schaffen, das an der Buchsbaumhecke lehnte. „Bis heute Abend“, rief er mir zu, als er sich in den Sattel schwang. „Wir können ja noch mal darüber reden.“
Der kleine Junge, der seinen Ball schon wieder in unsere Richtung gekickt hatte, stand verloren auf der Neckarwiese, unschlüssig, ob er die Böschung hinaufklettern sollte. „Dein Spielonkel ist weg“, rief ich ihm zu; da nahm ihn seine Mutter an der Hand und zerrte ihn hinter sich her, um den Ball zu holen.
Als ich über die Brücke fuhr, hatte sich der Himmel von Westen her zugezogen. Über dem Schloss glänzte noch der tiefblaue Herbsthimmel, doch mit dieser Pracht würde es bald vorbei sein. Schon als ich meinen Golf auf dem Parkplatz des Leierhofs zwischen zwei Pferdeanhänger abstellte, fielen die ersten dicken Regentropfen und drückten kleine Kreise in die staubige Frontscheibe. Vom Auto aus sah ich Nine, wie sie ihren Hals aufreckte und mit gespitzten Ohren in meine Richtung spähte. Die anderen Pferde auf der Weide grasten ruhig weiter. Ob Nine Automarken erkennen konnte? Ich war noch nicht einmal ausgestiegen!
Schnell ging ich zu ihrer Weide über die Straße. Die Stute lief zum Zaun und brummelte mir zu. Ich öffnete den unteren Teil des Weidezauns und schlüpfte hindurch. Dann klinkte ich den Führstrick in den Ring des Stallhalfters, doch gerade als ich Nine hinausführen wollte, stupste mich etwas Weiches in die Seite. „Oh je! Dich hätte ich fast vergessen!“ Pepino, das dicke, freche Pony mit dem XXL-Selbstbewusstsein, war seit diesem Sommer Nines Koppelpartner. Seit die beiden zusammen auf die Weide gingen, war Nine so ruhig wie ein Lämmchen geworden. Pepino, der früher keinen Schritt zu viel getan hatte, war neuerdings völlig aufgekratzt und spielte sich als Nines Beschützer auf. Nine war seine Stute, und wer es nicht wusste, dem machte er es unmissverständlich klar.
„Du bleibst erst mal hier.“ Doch er wollte mich nicht verstehen und drängelte mit aller Macht an Nines Seite.
„Pepino, es regnet.“ Weiter kam ich mit meinem Argument nicht. Statt mir aus dem Weg zu gehen, baute sich der Dicke vor Nine auf. Entweder wir beide, oder keiner, schien er zu sagen. Er blitzte mich aus seinen mandelförmigen Augen an und ließ das Weiße schimmern. Mist – ich hätte die Koppel mit dem Elektroband abtrennen sollen, bevor ich Nine holte, aber jetzt war es zu spät. Dicke Tropfen prasselten auf die Straße und ich hatte nicht einmal eine Regenjacke an.
„Er benimmt sich wie ein Hengst.“
„Iris! Du kommst genau richtig!“ Ich übergab ihr Nines Führstrick und bückte mich, um Pepinos Halfter aufzuheben. Doch gerade als ich den Panikhaken in den Ring einhaken wollte, machte das Pony einen Satz und galoppierte mit fliegender Mähne am Koppelzaun entlang. „Der kommt schon wieder“, sagte Iris. „Bring Nine in den Stall, ich warte hier auf unseren Heißsporn!“
Mir lief das Wasser in den Hemdkragen und es war ungemütlich kalt. „Okay! Danke! Bis gleich im Stall.“
Nine spitzte die Ohren und schlug einen Schritt an, der so raumgreifend war, dass ich neben ihr in Trab fallen musste. Schadet nichts, dachte ich, da wird mir wenigstens warm. Ich versuchte gleichmäßig zu atmen, Seitenstechen musste nicht sein. Im Vorbeigehen bemerkte ich auf dem Parkplatz einen großen weißen BMW. Er fiel mir sofort auf, weil sein Lack trotz des Regens makellos blitzte. Die meisten Einsteller auf dem Leierhof fuhren ältere Modelle, denen man ihre Jahre als Zugmaschinen von Pferdeanhängern ansah, doch dieser Wagen war bestimmt keine drei Wochen alt. Ich nahm mir vor, Tom nach dem Besitzer zu fragen. Vielleicht war es ein neuer Einsteller und weil wir schon lange keine Neuen auf dem Hof mehr gesehen hatten, machte mich diese Aussicht neugierig.
„Ho, ho, ho!“ Der stets hilfsbereite Tom hatte meine bedrängte Lage bemerkt. Er war noch keine vier Wochen auf dem Hof und Nine gehorchte ihm aufs Wort. Es brauchte nur eine tiefe Männerstimme und Nine stand wie ein Standbild im strömenden Regen!
Tom hatte den Hof von den schmallippigen Peynibels übernommen. Gerade noch rechtzeitig, denn hätten Mutter und Tochter noch länger das Regiment geführt, wäre auch den nachsichtigsten Pferdebesitzerinnen der Geduldsfaden gerissen. Als erstes hatte Tom das „y“ aus dem Namen entfernt und es durch ein „i“ ersetzt. „Leierhof, das gefällt mir besser!“ Mit dem kleinen „i“ kehrte die gute Stimmung auf den Leierhof zurück. Als nächstes verschwanden die gelben Klebezettel mit den Befehlen „Bitte Türe zu und Licht aus!“ Statt neue Stallordnungen zu verfassen und sie im Reiterstübchen auszulegen, verpackte er seine Vorschriften, mit denen er äußerst sparsam umging, in lustige Geschichten, die jedem unmittelbar einleuchteten. Tom konnte zwei Hafersäcke unter einem Arm tragen, ständig war er mit Nägeln, Hammer und Säge unterwegs und reparierte im Handumdrehen alles, was nicht mehr niet-und nagelfest war. Mit seinem schwarzen Vollbart, seinem dicken Bauch und seiner Schildkappe kam er mir vor wie eine jüngere Ausgabe von Bud Spencer und er freute sich diebisch, wenn ich ihn auf die Ähnlichkeit mit dem Westernhelden ansprach.
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