Daniel setzte sich zu Monsieur Jardinverde, der sich noch immer nicht von diesem glücklichen Schock erholt hatte. Er klopfte ihm kurz auf die Schulter.
»Herzlich willkommen in Chartres.«
Da liefen Tränen über die Wangen des Spaniers.
Wenn Claudine nicht zu ihrer Linde lief und nicht zu den Hühnern, dann eilte sie sämtliche Treppen hinauf, um von den Zinnen weit über die Stadt und das angrenzende Land schauen zu können.
»Ich will ein Vogel sein und fliegen können!«, rief sie ein ums andere Mal, rannte zwischen den Zinnen herum, neigte sich weit hinaus und jauchzte. Trotz aller Freiheiten, die Agnès ihr gewährte, litt sie dabei besonders und verbot ihrem Töchterchen, sich ohne Aufsicht dort oben aufzuhalten. Zwar liebte sie diesen Platz selbst, erinnerte sich an die Zeit auf den Türmen der Notre-Dame zu Paris mit Quasimodo, mit ihrer Madre und mit … Doch an Dom Frollo wollte sie nicht denken und nicht an ihre Verurteilung als Hexe. Dass allein die Erinnerung daran, was auf dem Turm geschehen war, sie nach wie vor lähmte, ihr jegliche Freude zu rauben drohte, wollte Agnès nicht wahrhaben. Sie wollte diesem Dämonpriester nicht erlauben, ihr noch immer Ekel und Schrecken einzujagen. So viel Schönes gab es in ihrem Leben, da wäre es doch gelacht, das wenige Böse nicht endlich vergessen zu können. Wieder einmal quengelte Claudine so lange, bis Agnès ihr erlaubte, mit Anouk hinaufzugehen. Gern wäre sie mitgekommen, doch sie sollte Raphael und Madame Veronique gemeinsam mit Monsieur Jardinverde zur Residenz des Bischofs begleiten. Auch der Vogt de Claireleau war geladen. Es galt, die Unterschriften der beiden einzuholen, was sich angesichts der veränderten Vertragsbedingungen vonseiten des Bischofs schwierig gestalten würde.
»Schau, Anouk! Da unten vor dem Tor steht ein Gespenst. Ui! Ich habe noch nie ein Gespenst gesehen!«, rief Claudine. Sie klatschte vor Begeisterung in die Hände. »Gehen wir hinunter und laden es ein! Maman hat bestimmt auch noch nie ein Gespenst gesehen.«
»Wir dürfen keine fremden Leute einladen, Mademoiselle. Aber Ihr habt recht, die Frau da unten sieht wirklich nicht mehr sehr lebendig aus, so dünn, so blass. Und sie scheint ins Leere zu schauen. Gehen wir doch hinab und reichen ihr etwas von dem Brot, das wir besitzen. Ob sie wohl auch Kirschen mag? Ich habe gesehen, wie die Mägde erste reife Kirschen pflückten und in die kühle Vorratskammer brachten.«
Aufgeregt lief das Kind hinab. Gehen oder gar schreiten war diesem kleinen Wirbelwind vollkommen fremd. Anouk, selbst jung und wendig, hatte Mühe zu folgen. Aus der Küche holten sie ein großes Stück Brot, etwas Käse und ein paar Kirschen, legten alles in einen Korb, in dem sie ein Tuch ausbreiteten, und stahlen sich zum Tor der Mauer hinaus, die den Park rund ums Schloss umgab. Madame Agnès mochte es, wenn Claudine ›die Welt kennenlernte‹, wie sie es nannte, aber Madame Veronique würde es niemals erlauben, das Kind außerhalb des Schlossgebietes mitzunehmen. Sie war ja schon außer sich, wenn es bei den Stallungen spielte, vom Kontakt zu den Kindern des Gesindes ganz zu schweigen. So kam es, dass Anouk mit ihrem Schützling jede Menge Geheimnisse teilte, die das Kind mit dem Herzen auf der Zunge auf keinen Fall vor Madame Veronique ausplaudern sollte.
Sie verließen den Schlosspark allerdings sehr selten und gerade deswegen erlebte die Prinzessin diese Ausflüge stets als Abenteuer. Ganz andere Menschen, verschiedene Tiere, die grunzten und meckerten, schreiende Esel und glucksende Truthähne, alles bunt gemischt, versetzten Claudine in taumelnde Begeisterung. Die Leute trugen mitunter Lumpen, hatten rot entzündete Füße, beachtlich schmutzige Hände und ungewaschenes Haar. Es gab aber auch solche, die bunt gekleidet und sauber waren, sie wirbelten im Kreis und spielten fröhliche Musik.
»Das sind Zigeuner«, hatte Anouk erklärt.
Welch ein aufregendes Wort! Eines jener Wörter, die grand-mère nicht hören dufte.
Nicht weit vom Tor entfernt hielten sich mehrere Leute auf. Es war der Tag, an dem Bauern verschiedene Feldfrüchte ins Schloss brachten, teilweise aber auch verkauften. Darum tummelte man sich um die Karren wie auf dem Markt. Die Gespensterfrau gehörte zu einer kleinen Gruppe von Personen, von denen ein Mann alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Dennoch blickte er sich freundlich um und schien sich an die Gaffer gewöhnt zu haben. In einem unbemerkten Augenblick lief die Prinzessin zu ihm hin, um sein Gesicht von der Nähe betrachten zu können.
»Bist du ein Mensch?«, fragte sie ohne Scheu.
Simon verstand sie nicht, bemerkte aber ihren Blick und lächelte.
»Du bist ein lieber Einaug-Mensch«, stellte sie fest und ging zu Paquette.
»Bist du ein Gespenst?«
Diese quietschte erschrocken, wenn auch in leisem Ton auf.
»Meine kleine Agnès! Meine kleine Agnès!«, flüsterte sie und streichelte Claudine übers Haar.
»Mademoiselle!«, rief Anouk panisch, weil sie nicht wollte, dass die Prinzessin von jemandem berührt wurde, zudem hatte sie bereits einige Augenblicke nach ihr gesucht. Hastig drückte sie Paquette den Korb in die Hand, fasste Claudine am Handgelenk und eilte zurück in den geschützten Schlossbereich, vorbei an den Wachen. Sie lief so lange, bis Claudine jammerte, dass sie nicht mehr mitkäme. Ihr Handgelenk war gerötet, weil Anouk sie so fest mit sich gezerrt hatte.
»Erzählt bitte niemandem, dass Ihr unter diesen Leuten verweiltet!«
Angesteckt von Anouks Panik nickte das Kind weinerlich.
Sophie hatte alles beobachtet. Zunächst rührte sie die Kleine, doch dann begann ihr Herz heftig zu schlagen, der Atem setzte beinah aus, als das fein gekleidete Mädchen so unbefangen mit Simon sprach. Die junge Frau, vielleicht eine Dienerin, konnte doch unmöglich eine Prinzessin mit sich auf gewöhnliche Wege genommen haben. Dennoch wurde Sophie das Gefühl nicht los, ihr sei gerade eine kleine Esmeralda begegnet. Die Sehnsucht nach der Tochter schmerzte regelrecht. Am liebsten wäre sie an den Wachen vorbei durch das Tor gelaufen, um zu sehen, wer dieses Mädchen war.
Wie so oft kam Claudine am Abend in das angrenzende Gemach ihrer Mutter gelaufen, sobald sich diese schlafen legte. Ganz in Gedanken an die Familie Jardinverde, die allein wegen ihrer Religionszugehörigkeit bangen musste, sich an welchem Ort auch immer ansiedeln zu dürfen, erinnerte sie sich an die Zeit, in welcher sie mit den Zigeunern von Stadt zu Stadt gezogen war, bis sie schließlich mit ihrer Madre in Paris so etwas wie eine Heimat gefunden hatte, wenn auch im ›Hof der Wunder‹. Damals war ihr nicht aufgefallen, wie feindlich ihre Sippe von ehrbaren Bürgern betrachtet wurde, denn als gefeierte Esmeralda fühlte sie sich von allen geliebt. Tatsächlich aber musste José, der damalige Anführer ihrer Truppe, oft mühselig feilschen, um außerhalb des Dorfes irgendwo an kalten Stellen ein Nachtlager aufschlagen zu können. Wenn sie sich nicht gerade den Darbietungen hingaben, wurden Zigeuner gemieden, als verbreiteten sie Krankheiten. Agnès wunderte sich darüber, das jetzt erst zu bemerken. Offenbar waren die Liebe ihrer Madre und der Spaß, den sie mit den anderen Zigeunerkindern gehabt hatte, so berauschend gewesen, dass sie die Misstöne ihres Daseins als Kind gar nicht mitbekam. Im Einschlafen sah sie ein großes Haus vor sich, in dessen Hof die Gauklertruppe aufrat. Man hatte ihnen dort mehrere Tage Quartier geboten. Monsieur Jardinverde kam ihr in den Sinn, Valencia, der Strand. Waren es Erinnerungen oder bereits ein Traum?
»Ich habe heute ein Gespenst gesehen, das war aufregend!«, raunte ihr Claudine schlaftrunken ins Ohr.
»Schön, dass dein Tag mit Anouk so aufregend gewesen ist. Bestimmt werde ich auch bald wieder mehr Zeit mit dir verbringen können. Ich freue mich schon darauf!«
Jetzt war sie wieder wach, wenn die Worte auch mehr gelallt als gesprochen klangen. Sie überlegte, ob sie ihrem kleinen Wildfang ein paar Kunststücke beibringen sollte, vielleicht das Radschlagen. Andererseits wäre das doch sehr auffällig. Welche Duchesse schlägt schon Räder oder jongliert mit Äpfeln?
Читать дальше