Sein Herz wurde immer schwerer und trauriger, während er ihrem hämischen Blick auswich und ängstlich zum Fenster hinstarrte. Wenn hier die Gardinen fehlten, hatte man nämlich vom Nachbarhaus ungehinderten Einblick – das Zimmer dieser ekelhaften spottlustigen Nachbarsbuben war genau gegenüber.
Michaela hatte seinen Blick bemerkt. »Tja, davor wirst du dich halt in acht nehmen müssen, daß man dich von drüben sieht«, bemerkte sie ungerührt, »und die Handwerker sind hier im Erdgeschoß gleich draußen vor der Zimmertür, das weißt du ja.« Sie trat mit dem Kleid in der Hand an ihn heran und begann es ihm über den Kopf zu ziehen. »Schön aufstehen – Arme hoch!« kommandierte sie, und er ließ es voller Wut und Trauer, aber wortlos mit sich geschehen – er mußte durch kräftiges Beißen den Schnuller festhalten, während sein Kopf durch die enge Halsöffnung gezwängt wurde.
»So, laß dich anschauen!« sagte Michaela schließlich. Auch ohne vor einen Spiegel gestellt zu werden, erkannte Rudi, daß das kurze rüschenbedeckte Blümchenkleid ihm nur gerade bis zum Hintern reichte. Die dicke Windel ragte sichtbar darunter hervor, für jeden Betrachter auf den ersten Blick zu erkennen. Inzwischen spürte er auch immer deutlicher das Rumoren und Grollen in seinem Bauch. Als eine erste Welle von Krämpfen ihn durchschüttelte, hatte er Mühe, die Beine zusammenzukneifen und den Schnuller im Mund zu behalten.
Michaela bemerkte es. »Na, bald hast du’s überstanden«, tröstete sie Rudi, herzte und tätschelte seinen Kopf. »Nächstes Mal kämpfst du nicht mehr dagegen an, hmm? Es hat sowieso keinen Zweck – und du wirst sehen, du fühlst dich danach ganz entspannt, und du kannst ganz normal dein Nickerchen machen!«
»Das geht bestimmt nicht! Das ist so ekelhaft! «
Michaela lachte nur, und diesmal klang es nicht gemein, einfach nur selbstbewußt und überlegen. »Glaubst du im Ernst, daß du das besser weißt als ich? Ich hab das doch oft genug gesehen! Nach kurzer Zeit schlafen die wie die Engelchen – leicht stinkige Engelchen« – sie lachte kurz auf – »aber sie schliefen – genauso wie du jetzt artig und lieb schlafen wirst, um deine Tante und deine Mutter nicht zu enttäuschen, nicht waaaahhr ?« Mit diesen letzten, lauten Worten gab sie ihm einen Klaps auf seinen dick gewindelten Po und klappte das Seitengitter des alten Bettchens hoch. Zärtlich hob sie sein Kinn an. »Hör zu, Rudi: Ich bin sehr nett zu dir – du wirst hier nicht angeschnallt« – sie deutete mit einem Nicken auf das verstaubte Ledergeschirr am Kopfende – »aber ich werde ab und zu nach dir schauen, damit dir nichts fehlt. Und sollte ich feststellen, daß du versuchst, das Kleid auszuziehen oder den Schnuller auszuspucken, dann fände ich das gar nicht nett – hast du verstanden?«
Rudi nickte artig. Er wußte aus Erfahrung, daß mit Tante Michaela nicht zu spaßen war, wenn sie so scheinbar sanft sprach. Und wenn sie plötzlich die Tür aufriß und ins Zimmer trat, wäre es auch zu spät, den Schnuller schnell wieder in den Mund zu stopfen. Er mußte ihn also im Mund behalten. Ein Grollen aus seinem Magen war jetzt deutlich zu hören, sogar für Michaela. Rudi verzog das Gesicht und spannte alle Muskeln an. »Oh je oh je, da muß aber einer mal!« neckte Michaela ihn. »Nun ja – der Morgenschiß kommt ganz gewiß, und wenn es auch am Mittag ist. Und bei dir ein bißchen schneller.« Sie kraulte ihn zärtlich am Kopf. »Immer daran denken: Entspann dich, tu, was wir dir sagen, dann hast du es gut, und alles ist ganz leicht und einfach.«
»Krieg ich wenigstens vor dem Mittagessen eine neue Windel?« mummelte Rudi verzweifelt durch seinen dicken Schnuller.
Michaela schüttelte unmerklich den Kopf. »Die Zeit, die die Handwerker da sind, müssen wir so gut wie möglich ausnutzen. Für so einen Luxus wie einen Windelwechsel haben wir erst am Abend Zeit.«
Wieder durchfuhr ein deutlich wahrnehmbares Grollen Rudis Gedärme; er verkrampfte sich, und sein Gesicht verzerrte sich. Michaela streichelte ihn tröstend: »Ja, ja, ich weiß, wie schwer das am Anfang ist! Am besten gar nicht daran denken … Heut nachmittag kannst du in den Laufstall da drüben; den kann man durchs Fenster auch nicht sehen. Da geb ich dir dann deine Schulhefte und deine Lesefibeln, da kannst du ein bißchen üben, damit du was Nützliches zu tun hast und in der Schule noch besser wirst.«
Rudi stellte sich vor, wie er den ganzen Nachmittag in vollen Hosen Schularbeiten machen mußte, statt fröhlich draußen mit Freunden in der Sonne zu spielen oder schwimmen zu gehen, und wieder strömten ihm neue Tränen in die Augen. Das waren ja schöne Aussichten für seine allerersten großen Ferien!
Michaela schien seine Gedanken gelesen zu haben. »Es ist ja nur dieses eine Mal«, tröstete sie ihn. »Da muß man halt auch einmal zurückstehen können. Und abends gehen wir dann ’rüber zu unseren netten Nachbarn, und dann wirst du gesäubert und frisch gewindelt, und wenn du artig warst, darfst du hier vielleicht noch ein bißchen fernsehen vor dem Schlafengehen.«
»Fernsehen in Windeln!« klagte Rudi.
»Pschscht!« sagte Michaela begütigend. »Ich sagte doch, da hast du dich ganz schnell dran gewöhnt, und bald wirst du es ganz normal finden, wenn dir beim Sandmännchen oder der Sendung mit der Maus die Windel naß wird. Und wenn deine Schwester wieder da ist, wird sie an meiner Stelle ein bißchen auf dich aufpassen.«
Rudi erschrak so sehr, daß Michaela seinen Schnuller festhalten mußte, sonst hätte er ihn wieder verloren. »Na na na – wer wird sich denn so aufregen? Wenn deine Schwester dich beaufsichtigt, hab ich noch mehr Zeit zum Arbeiten, und um so schneller wird das neue, schöne Heim Wirklichkeit.«
Rudi wollte sich der Magen umdrehen, wenn er an seine ewig spottlustige Schwester dachte – noch zusätzlich zu dem immer stärkeren Grummeln und Grollen, das seinen Magen ohnehin schon durchzog.
»Tja, Rudi, da mußt du wohl oder übel durch. Wir können von diesen dicken, großen, teuren Windeln auch nicht mehr kaufen als unbedingt nötig. Wir haben jetzt noch 42 Tag- und 42 Nachtwindeln, das reicht genau bis zum Ende der Ferien – nicht mehr und nicht weniger.«
Draußen wurde es laut. Männerstimmen. Geschäftiges Hin- und Hereilen bedrohlich nah vor der Zimmertür. Irgend jemand ließ Bohrmaschinen kurz aufheulen, fast wie beim Stimmen der Instrumente, bevor das eigentliche Konzert begann.
»Ach, siehst du, jetzt ist die Frühstückspause der Handwerker zu Ende, und ich muß dich jetzt allein lassen«, sagte Michaela beinahe entschuldigend, während sie schon aufstand. »Und bei der ganzen Aufregung bist du noch gar nicht zu deinem Frühstück gekommen! Paß auf«, sagte sie aufmunternd, »ich helfe jetzt kurz deiner Mama und den Männern, und wenn so in einer halben oder ganzen Stunde etwas Luft ist, dann komm ich mit einem Tablett zurück und bring dir was, Milch und Hörnchen mit Honig, hm, ist das nicht toll?« Und fort war sie mit einem letzten gutgemeinten kurzen Haarekraulen.
Rudi konnte es nicht fassen. Sollte er tatsächlich so ein leckeres Frühstück mit verschissenen Hosen einnehmen? Anscheinend meinte Michaela es wirklich ernst mit dem »Selbstverständlichen«. Ihm zogen sich alle Innereien zusammen, wenn er nur daran dachte. Oder war das dieses vermaledeite Zäpfchen? Er konnte es nicht unterscheiden. Es fühlte sich jedenfalls gräßlich an, was da in seinem Bauch rumorte.
Er schaute um sich. Er war in einem reinen Kleinkindzimmer gefangen: auf der einen Seite ein großes Laufställchen, an der Wand ein abgestellter Hochstuhl und eine alte Wickelkommode, auf seiner Seite das Gitterbett und ein kleiner Kleiderschrank. Der Bettbezug zeigte lauter Kindermotive, und die dämliche Uhr an der Wand und der Kalender daneben waren mit albernen Disneyfigürchen verziert – wo er doch so viel lieber den starken He-Man gehabt hätte. Pah – Mädchen!
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