Meinen Brüdern gewidmet!
Martell Beigang
unverarschbar
- Roman -
FUEGO
„Es ist nicht so, daß ich mir nie die ultimative Frage gestellt hätte.“
„Und wie, lautet diese Frage?“
„Wo geh ich her, wo komm ich hin und was soll der ganze Scheiß?“
aus Juli Zeh: Adler und Engel
„Musik ist die Heilungskraft von dem ganzen Universum!“ Eigentlich ein ganz schön behämmerter Satz, findet Ben. Wenn er es genau nimmt, sogar ein richtig verkehrter – grammatikalisch gesehen –, denn es müßte ja lauten „des ganzen Universums“, aber Ben ist gerade überhaupt nicht in der Stimmung, um klugzuscheißen. Irgendwie mag er diesen Satz. Sehr sogar. Wo sie recht haben, haben sie recht, die post-68er von der Titanic, denn dort hat er ihn irgendwann einmal gelesen. Und für sie hofft er stark, daß sie es nicht ironisch gemeint haben, denn sonst würden sie ordentlich Ärger bekommen, denn Ben ist es bitterernst – mit der Musik. In der Mitte seines Sofas hat sich die eifrige Benutzung desselben eine veritable Delle in den dunkelbraunen Breitcordbezug gegraben. In dieser hockt Ben gerade im Schneidersitz, was ein bißchen grotesk aussieht, da sich seine langen Gräten nur mit Mühe in Position falten lassen. Er haßt es, wenn Frauen seiner Haarfarbe über sich selbst sagen, sie seien straßenköterblond, denn das klingt in seinen Ohren so selbstmitleidig. Seine Haare rangeln sich basisdemokratisch auf seinem Kopf, als habe er in einem Wäschetrockner übernachtet. In Wahrheit verwendet er viel Sorgfalt auf seine Frisur, damit man nicht erkennt, daß es überhaupt eine ist, was mitunter einiges an Zeit und Haargel erfordert. Wenn Ben so auf seinem Sofa sitzt, durchströmt ihn unmittelbar ein wohliges Gefühl. Durch die riesigen, fast bis zum Boden reichenden Fenster seiner Wohnung hat er einen Ausblick auf drei heruntergekommene Industriebaracken. Hinter ihnen verläuft eine Straße, an die sich ein kleiner, mit alten Kastanien bestandener Park schmiegt. Trotz geschlossener Fenster hört Ben, wie sich ein Zug hinter dem Park widerwillig quietschend in eine große Kurve zwingt. Dann verschwindet er hinter dem Haus Richtung Deutzer Bahnhof.
Bens Wohnung ist eine Art Loft. Allerdings kein kernsaniertes Backsteingebäude wie in New York oder in Schöner Wohnen, sondern eine schmucklose, graue Fabrik, in der die Firma Siemens in den 50er Jahren Rohrpostsysteme entwickelte.
Auf dem Hof stapeln sich rostige Bleche. Der Asphaltbelag zeigt an vielen Stellen derbe Risse. Aber Bens Vermieter denkt gar nicht daran, dem insgesamt sehr desolaten Zustand seiner Immobilie entgegenzuwirken, denn er spekuliert darauf, das ganze Gelände in absehbarer Zeit gewinnbringend zu verkaufen. Unlängst wurde nämlich in unmittelbarer Nähe die Kölnarena, eine riesige, 20.000 Besucher fassende Konzerthalle errichtet. Diese beschert der rechten Rheinseite Kölns, der Schääl Sick, gerade eine in Bens Augen abartige ‚Ver-Schickerung‘, die auf kurz oder lang solchen alternativen Wohnkonzepten wie der einer heruntergekommenen Fabrik keinen Raum mehr bieten wird.
Ben liebt seine Wohnung. Für ihn versprüht sie ihren ganz eigenen, morbiden Charme. Er steht darauf, daß sich, abgesehen von den sanitären Einrichtungen, alles, was er braucht, in einem siebzig Quadratmeter großen Raum befindet: Ein Bett aus Paletten (in einer Nacht- und Nebelaktion eigenhändig geklaut), ein Stahlspind (mit Dolly-Parton-Centerfold vom Vorbesitzer), ein Schreibtisch, darauf ein Laptop und ein graues Telephon mit Wählscheibe, ein paar Metallregale mit Büchern, ein Herd (mit Gasflasche zum Wechseln) und eine Stereoanlage (von Phillips, mit sehr realistischem Sound). Vor dem Sofa steht zudem noch ein Tischchen, das Ben aus einer Waschtrommel selbst gebastelt hat. Es dient als Untersatz für einen kleinen orangefarbigen Fernseher mit Zimmerantenne, denn Satellitenschüsseln findet Ben asozial. Alles weitere empfänd er als überflüssigen Schnickschnack. Aus der Glotze ertönt klassische Musik. Fasziniert beobachtet Ben, wie Sir Simon Rattle lächelnd, mit einem dünnen Stöckchen in der Hand, sein Orchester zu Höchstleistungen aufwirbelt. Kommt echt popstarmäßig, denkt er und registriert bewundernd die wilde Lockenpracht des Maestros.
Ben macht selbst Musik. Er ist Bassist und Sänger in Sachen Pop und Jazz.
Ergriffen sitzt er vor der Mattscheibe und hat seit langem mal wieder das seltene Gefühl, für diesen einen, kurzen Moment die Welt zu verstehen, die ihm im gerade ausklingenden Jahr so fremd und seltsam vorkam.
„Guck nicht so! ... Hey, ich red mit dir. Guck mich nicht so an, und vor allem: lächle nicht so dämlich dabei. Und den Knopf, den kannst du gleich wieder zumachen. Heute mußt du nicht sexy aussehen, du hast nämlich frei, bist nicht im Dienst. Also entspann dich.“ An Tagen wie diesem könnte sie ihr eigenes Spiegelbild mal wieder ankotzen. Einfach so, aus reinem Ekel. Und diesmal nicht, um wieder ein paar Gramm wettzumachen ...
In den letzten Monaten lief für Ben so ziemlich alles schief, was schieflaufen konnte. Seine Freundin Tine hat ihn nach fünf Jahren mit den Worten verlassen: „Werd endlich mal erwachsen!“ was an für sich schon schlimm genug ist; besonders kraß fand Ben allerdings, daß sie es feige, fernmündlich, per Telephon getan hat. Etwa zur selben Zeit wurde er dreißig, was er bis dahin immer für ausgeschlossen gehalten hatte. Das allerschlimmste jedoch war, daß sich seine Band, die SERVOKINGS, auflöste, wodurch sich Ben unterm Strich nicht nur langsam von seiner Jugend, sondern auch von seinem größten Jugendtraum verabschieden mußte: mit einer eigenen Popband riesig berühmt zu werden. Vor diesem ganzen Wahnsinn war Ben eigentlich ganz zufrieden mit sich und der Welt. Seit etwa zehn Jahren lebt er vom Musikmachen, was für sich genommen bereits ein kleines Wunder darstellt. Denn das Business ist beinhart. Aber dieses verdammte letzte Jahr lief einfach nicht so, wie es sollte, und nun sitzt er allein auf seinem Sofa aus den 70ern, und das einzige, was ihn tröstet, ist (und war eigentlich immer schon) Musik. Musik aus einem winzigen Fernseher – und an diesem Abend interessanterweise klassische Musik. Wenn man genau hinschaut, bemerkt man: Ben hat feuchte Augen, und zwar deshalb, weil sich in diesem Moment für ihn wieder einmal zeigt, daß es einen gemeinsamen Kern in jeder Musik zu geben scheint. Eine Essenz, für die es sich zu leben lohnt und die einen vergessen machen kann, was um einen herum so alles passiert. In solchen Momenten ist Ben glücklich und traurig zugleich. Melancholisch eben, und man darf ihn getrost einen der letzten Romantiker des angehenden 21. Jahrhunderts nennen.
Ein lästiger Gedanke zerstäubt den Nebel seiner musikinduzierten Trance. Ihm kommt die Party in den Sinn, auf die er heute abend noch eingeladen ist. Lustlos bindet er sich vom Sofa heruntergebuckelt seine Adidas Samba, um sich ausgehfertig zu machen, obwohl er vielmehr Lust hätte, sich daheim mal wieder ordentlich zuzulöten. Womöglich täte es mir mal wieder ganz gut, unter Leute zu kommen, denkt er, gerade an einem solchen Tag wie heute – Silvester.
Was erwartet man von einer guten Party? Ordentlich was zu trinken, ordentlich was zu essen und, wenn man ehrlich ist, ordentlich was zu ficken.
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