Nietzsche schrieb in seinen »Unzeitgemäße[n] Betrachtungen«: »Das Wissen […] wirkt jetzt nicht mehr als umgestaltendes, nach außen treibendes Motiv und bleibt in einer gewissen chaotischen Innenwelt verborgen, die jener moderne Mensch mit seltsamem Stolz als die ihm eigenthümliche |54| ›Innerlichkeit‹ bezeichnet.«71 Das sei typisch deutsche Innerlichkeit, die auf Luthers Reformation zurückgehe und die Deutschen rückständig gemacht habe.
Direkt auf Innerlichkeit bei Kierkegaard sind Theodor W. Adornos Überlegungen zur »Konstruktion des Ästhetischen«72 gerichtet: »Wer jeden Eingriff in die äußerliche Realität als Abfall vom rein inwendigen Wesen ahndet, der muß die gegebenen Verhältnisse sanktionieren, wie sie sind. Kierkegaard scheute lange Zeit davor nicht zurück.«
In dieser Kritik an Innerlichkeit wird freilich übersehen, dass eine tiefe Innerlichkeit zu äußerster Kampfbereitschaft führen kann. Dafür geben gerade Luther ebenso wie Kierkegaard anschauliche Beispiele: Die Verweigerung eines Widerrufs in Worms begründet Luther – ganz »innerlich« – mit dem in Gottes Wort gefangenen Gewissen. Bei Kierkegaard sehen wir am Beispiel seines Streits mit dem »Corsar« ebenso wie am Streit mit der dänischen Staatskirche, wie sich tiefste Innerlichkeit und äußerste Kampfbereitschaft gegenseitig fordern. In Taizé brachte es Roger Schutz auf die Formel: »Kampf und Kontemplation!« Die Innerlichkeit der Kontemplation gibt dem Kampf um Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung die Kraft und bewahrt ihn vor Leerlauf. Stets geht es um die Dialektik, die Paulus in 2Kor 4,16f. so zum Ausdruck brachte: »Wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert.« Das ist die Innerlichkeit, auf die es Kierkegaard ankommt. Bei ihm wird sie unter viel Leiden im Streit des Gebets gelernt und hat zum Ziel, sich »in Gott hineinzuarbeiten«.
Innerlichkeit und »Entweltlichung«
Als Papst Benedikt XVI. 2011 Deutschland besuchte, kam die Pointe seines Besuchs erst ganz am Schluss bei einer Rede in Freiburg zur Sprache: »Entweltlichung« der Kirche, forderte der Papst. Weist »Entweltlichung« in die Richtung einer recht verstandenen »Innerlichkeit«? Ist der purgatorische Ton des Begriffs »Entweltlichung« vielleicht besser in dem Begriff »Innerlichkeit« aufgehoben? Der Sache nach ist doch wohl gemeint: Eine Kirche, die sich dadurch verzettelt, dass sie in tausend weltlichen Dingen mitmischt, |55| wird zur innerlichen Sammlung auf die Kräfte der Eucharistie und des Gebetes aufgefordert, damit sie sich nicht in äußerlichem Aktivismus erschöpfe. Von der Welt Abstand gewinnen, um die Welt wieder erreichen zu können – das scheint mir in dem Appell des Papstes wie in Kierkegaards Begriff der Innerlichkeit mitzuschwingen.73 Das ist auch der Sinn von Röm 12,2: »Stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist«.
Ich wünschte mir, dass der Appell des Papstes an seine Kirche ebenso wie Kierkegaards Ruf nach Innerlichkeit auch in evangelischen Kirchen gehört würden. Dann würde manches Wort, mancher Begriff, manche Parole verschwinden, weil die Innerlichkeit fehlt, die einer Parole erst die Spannkraft gibt. Ohne Innerlichkeit gleicht ein Wort einem Bogen, der nicht gespannt ist, so dass jeder Pfeil kraftlos zu Boden fällt. Das ist bei Luthers Parole von der »Freiheit eines Christenmenschen« anders, weil hier die innerliche Spannung von Glaube und Liebe, von Freiheit und Dienst mitschwingt und die Kirche der Freiheit davor schützt, eine Kirche der Beliebigkeit zu werden.
Innerlichkeit und Aktivismus
Die Bochumer Praktische Theologin Isolde Karle hat die evangelische Kirche eine »Kirche im Reformstress«74 genannt. Das Grundproblem vieler Kirchenreformprogramme sei, dass sie zu viel Steuerbarkeit und Planbarkeit unterstellten, dass sie Prozesse organisieren wollten, die sich nicht organisieren lassen. Dadurch manövriere sich die evangelische Kirche in einen Aktivismus hinein, der große Frustrationen hervorrufe und die kirchlichen Mitarbeiter auslauge. Die Frage ist also, was sie mit den Erwartungen machen, die an sie herangetragen werden, ob sie auch entschieden »Nein!« sagen können und eine Zuflucht haben, in der sie sich in Zeiten der Erschöpfung bergen können, um zu neuen Kräften zu kommen.
Natürlich meine ich mit »Zuflucht« den Raum, den das Gebet öffnet. Ich meine als Rhythmus das »Ora et labora«, das nicht nur in einem Kloster, sondern auch in einem Pfarrhaus wie in jedem Haus zum Lebensrhythmus werden kann, frei nach Luthers berühmtem Wort: »Heute habe ich viel zu |56| tun. Da muss ich viel beten!« Doch leider gibt es ja auch die flüchtigen, die geplapperten, die routinierten Gebete, die keinen Raum öffnen, sondern mehr in die Enge treiben. Es sind gar nicht unbedingt die geprägten Gebete wie etwa das Vaterunser oder Luthers Morgen- und Abendsegen, die eine Enge verbreiten. Es sind Gebete, die Gott nur zum Erfüller menschlicher Anliegen degradieren. Ich glaube kaum, dass durch solche Gebete ein Raum der Innerlichkeit eröffnet wird, weil sie noch zu sehr am menschlichen Wunsch kleben, statt ihn loszulassen und »sich in Gott hinein zu arbeiten«.
Innerlichkeit und Anbetung
Wie das aussehen könnte, will ich an einem Gebet Kierkegaards verdeutlichen:
»Vater im Himmel! Du hältst alle guten Gaben in Deiner milden Hand. Dein Überfluß ist reicher, als daß menschlicher Verstand ihn fasse; Du bist willig zu geben, und Deine Güte ist größer, als daß eines Menschen Herz sie verstehe; denn Du erfüllst jede Bitte und gibst, um was wir bitten, oder gibst weit Besseres, als was wir erbitten. So gib Du denn jedem seinen ihm zugewiesenen Teil, wie es Dir wohlgefällt; aber gib Du auch einem jeden die Überzeugung, daß alles von Dir kommt, damit nicht die Freude uns von Dir reiße in der Vergessenheit der Lust, damit nicht das Leid die Scheidewand setze zwischen Dich und uns; sondern daß wir in der Freude hinsuchen zu Dir und im Leide bei Dir bleiben, damit, wenn unsere Tage einst gezählt, und der äußere Mensch verdorben ist, der Tod nicht kalt und furchtbar in seinem eigenen Namen komme, sondern mild und freundlich mit Gruß und Botschaft, mit Zeugnis von Dir, unserem Vater, der Du im Himmel bist! Amen.«75
Dieses Gebet ist mehr Anbetung als Anrufung. Der Beter wird aus der Fülle von Gottes Gaben in die Fülle von Gottes Gruß und Zeugnis durch den Tod hindurch geleitet. Kierkegaards Gebete führen in der Regel an einen Punkt, an dem der Anbetende am Ende nur noch ein auf Gott Hörender ist. Darauf kommt es im Grunde an, daß Beten am Ende ein Hören auf Gott wird. Kierkegaard beschreibt diesen Umschlag des Gebets vom Reden zum Hören so:
»Es ist des Menschen Vorzug vor dem Tiere, dass er reden kann; aber im Verhältnis zu Gott kann es dem Menschen, der reden kann, leicht zum Verderben werden, reden zu wollen. Gott ist im Himmel, der Mensch auf Erden: darum können sie nicht gut miteinander reden. Gott ist die Allweisheit; das, was der Mensch weiß, ist leeres Geschwätz: darum können sie nicht gut miteinander reden. Gott ist Liebe, der Mensch ist – wie man wohl zu einem Kinde sagt – sogar hinsichtlich seines eigenen |57| Wohl und Wehes ein kleines Schaf; darum können sie nicht gut miteinander reden. Nur mit viel Furcht und Zittern kann der Mensch mit Gott reden; mit viel Furcht und Zittern. Indes, mit viel Furcht und Zittern reden, ist schwierig aus einem anderen Grunde; denn gleich wie die Angst es macht, dass die Stimme leiblich versagt, ebenso bewirkt wohl auch viel Furcht und Zittern, dass die Rede verstummt und stille wird. Dies weiß der rechte Beter; und wer ein rechter Beter nicht war, der hat vielleicht eben dies gelernt im Gebet. Es war da etwas, das ihm so sehr am Herzen lag, eine Sache, die ihm so wichtig war, es ihm so überaus dringlich machte, sich Gott so recht verständlich zu machen, es bangte ihm, dass er im Gebet etwas vergessen haben könnte, und ach, gesetzt, er hatte es vergessen, so bangte ihm, dass Gott vielleicht von selber nicht daran denken möge: darum wollte er seine Sinne darauf sammeln, recht innerlich zu beten. Und was widerfuhr ihm dann, wenn anders er wirklich innerlich betete? Etwas Wunderliches widerfuhr ihm; allmählich, wie er innerlicher und innerlicher wurde im Gebet, hatte er weniger und weniger zu sagen, und zuletzt verstummte er ganz. Er ward stumm, ja, was dem Reden vielleicht noch mehr entgegengesetzt ist als das Schweigen, er ward ein Hörender. Er hatte gemeint, beten sei reden; er lernte: beten ist nicht bloß Schweigen, sondern ist hören. Und so ist es dann auch: Beten heißt nicht, sich selber reden hören, sondern heißt dahin kommen, dass man schweigt und im Schweigen verharren, und harren, bis der Betende Gott hört«.76
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