Das verstärkte die Wut, die nach der Tirade der Frau in ihm hochgestiegen war. „Du versoffene alte Vettel wirfst mir vor, dass ich trinke, wo du nur noch an der Flasche hängst und dabei noch rauchst wie ein Schlot. Und was das Boot angeht, das ist doch nur noch ein löchriger, alter Kahn, und bei der Rostlaube von einem Auto zu sprechen, ist ein Witz. Und in deiner Bruchbude, die du Haus nennst, wohne ich doch nur, weil du mich auf Knien darum angefleht hast. Du bist doch froh, dass es in deinem Leben überhaupt noch einen Menschen gibt. Was meine Theater- und Filmpläne angeht, habe ich noch eher eine Chance als du mit deinen Träumen von einem Engagement. Dich kennt doch keine Sau mehr. Dass du vor vierzig Jahren mal eine große Nummer im Filmgeschäft warst und Rekordgagen bekommen hast, weiß heute auch kein Mensch mehr.“
Mathilde Koller-Elberfeld hatte ihr Glas inzwischen ausgetrunken. Tränen liefen über ihre faltigen Wangen. Sie machte zwei Schritte und warf sich dem jüngeren Mann an den Hals. Ihn fest umklammernd, hing sie schluchzend an seiner Schulter.
„Ach Gunthram, entschuldige bitte, ich liebe dich doch und habe nur dich.“
Angeekelt löste der Mann die Hände der Frau und schob sie von sich weg.
„Lass mich zufrieden, du alte Schachtel.“
Jetzt noch lauter schluchzend, ging die Frau wieder zur Kredenz, wo sie sich noch einen großen Schluck Scotch einschenkte. Dann griff sie wieder zur Zigarettenschachtel.
Dem Set-Aufnahmeleiter Kai Schmidt fiel als Erstem auf, dass Jenni, die Assistentin der Kostümbildnerin, fehlte, als er im Geiste die nacheinander am Set eintreffenden Teammitglieder abhakte.
Auf dem Verteiler der Tagesdispo war sie aufgeführt. Sie hätte pünktlich da sein müssen. Kai Schmidt sprach mit Hella Rahde, die sich die Verspätung ihrer Assistentin nicht erklären konnte. Ein Anruf auf ihrem Mobiltelefon brachte auch keine Klarheit. Es kam keine Verbindung zustande. Der Anruf im Hotel in Varel ergab, dass Jennifer Schorn die Nacht gar nicht in ihrem Bett verbracht hatte. Nach einer Rundumbefragung stellte sich heraus, dass nur die Regieassistentin Monique Minthorn die Assistentin noch kurz vor dem Abendessen gesehen hatte.
„Ich habe, um mir noch etwas Appetit zu holen, einen Spaziergang in Richtung Schleuse gemacht. Dort habe ich Jenni gesehen. Wir haben uns kurz zugewunken, und ich bin dann zurück zum Abendessen gegangen. Gesprochen habe ich mit ihr nicht mehr.“
Inzwischen war der Produktionsleiter Jesko Durke aus seinem Büro aus Hamburg in Dangast eingetroffen. Der Autorität ausstrahlende, bullige Mann ergriff sofort die Initiative und entschied, dass eine Vermisstenmeldung gemacht werden müsse. Dann bat er Hella Rahde, ihre Arbeit bis zur Klärung dieses Falles, wie er sagte, ohne Assistentin zu machen.
Mit einer längeren Verzögerung – inzwischen war die örtliche Polizei über das rätselhafte Verschwinden der jungen Frau informiert worden – begannen die Arbeiten des neuen Drehtages. Laut Tagesdisposition sollten acht Bilder mit unterschiedlich vielen Einstellungen gedreht werden. Es handelte sich um Innenaufnahmen, die alle in einem angemieteten und von der Ausstattungsabteilung und der Außenrequisite hergerichteten Bauernhaus gedreht werden sollten.
Beim Dreh des fünften Bildes, das im Eingangsbereich des Hauses bei geöffneter Haustür spielte, setzte plötzlich heftiger Regen ein. Es wurde abgebrochen und ein totales Innenbild vorgezogen.
Die erste Einstellung des letzten Bildes wurde gedreht. Der Regisseur Hanno Ahrens erklärte seinen beiden Hauptdarstellern gerade seine Auffassung einer Szene, in der die beiden einen längeren Dialog hatten, als die Dreharbeiten abermals unterbrochen werden mussten.
Der Aufnahmeleiter stellte zwei Kripobeamte aus Wilhelmshaven vor: Jeanette Alt, eine gutaussehende, schlanke, etwa fünfunddreißigjährige Frau mit langen, dunklen Haaren. Neben ihrer Attraktivität strahlte sie eine große Selbstsicherheit aus. Ihr Auftreten ließ erkennen, dass sie wusste, was sie wollte. Ihr junger Kollege war Enno Bollmann. Er war von imposanter Statur und sah etwas einfältig aus. In der Hand hatte er ein Notizbuch, in das er offensichtlich Befragungsergebnisse eintragen wollte.
Jeanette Alt erklärte den Grund ihres Besuches am Set. „Wir sind von unseren Kollegen aus Nordenham verständigt worden, dass die Leiche einer jungen Frau gefunden worden ist, auf die die Beschreibung Ihrer vermissten Kollegin zutreffen könnte. Wir müssen jemanden von Ihnen bitten, uns nach Nordenham zu begleiten, um die Tote zu identifizieren. Die Vorschriften besagen zwar, dass ein Angehöriger dabei sein muss, aber wir möchten schon mal Klarheit bekommen. Die Angehörigen der Vermissten sind informiert, werden aber erst morgen aus Süddeutschland hier eintreffen.“
Mehrere Teammitglieder fingen an zu weinen.
„Wie ist das Unglück passiert?“ kam eine Frage vom Oberbeleuchter Bernd Röbge.
„Es war kein Unglück, es war Mord oder Totschlag“, sagte die Kommissarin und ergänzte die Feststellung: „Die Tote, die aus dem Wasser geborgen wurde, hatte erhebliche Verletzungen, die auf Gewalteinwirkung schließen lassen. Ob sie ertrunken ist oder schon vorher diesen Verletzungen erlegen ist, wird die angeordnete Obduktion ergeben. Wenn es sich bei der Toten um Ihre Kollegin handelt, sind wir für die Aufklärung des Falles zuständig und werden uns dann in Kürze wieder bei Ihnen melden. Darf ich Sie jetzt also bitten ...“
Jesko Durke, der Produktionsleiter, der bei der einsetzenden Diskussion einen kühlen Kopf behalten hatte, ergriff das Wort. „Selbstverständlich, ich komme mit Ihnen, und Frau Rahde, unsere Kostümbildnerin, kommt auch mit.“
Er nickte Hella Rahde zu, die sofort versicherte: „Ja klar, ich werde hier im letzten Bild nicht unbedingt benötigt.“
Sie blickte dabei zum Regisseur, der sein Einverständnis gab.
Als die vier das Set verlassen hatten, wurde die Diskussion noch lebhafter, und wilde Spekulationen und Theorien wurden erörtert.
Der Regisseur beendete die ins Kraut schießenden Gespräche. „Schluss jetzt mit dem Gerede. Noch steht gar nicht fest, ob es sich bei der Toten um unsere Jenni handelt. Lasst uns die letzte Einstellung bitte zu Ende bringen; also Ton ab ...“
In der Nacht hatte es stark geregnet. Als der Mann gegen sieben Uhr aufgestanden war, hatte er einen dumpfen Schmerz im Kopf gespürt, und die Wut war wieder in ihm hochgekommen. Eine Wut, die er nicht in den Griff bekam. Es musste wieder sein, hatte er schon am Morgen gewusst.
Es war ganz einfach gewesen, die Frau in seine Gewalt zu bekommen. Abends, nach Drehschluss hatte er auf einen günstigen Moment gewartet und die Maskenbildnerin abgepasst, als sie vor ihrem Hotel etwas frische Luft schnappen oder eine Zigarette rauchen wollte. Er hatte sie in ein Gespräch verwickelt, und sie hatte ihm geglaubt, als er sie unter einem Vorwand bat, ihm die paar Schritte zum kleinen Hafen zu folgen.
Wie naiv sie doch gewesen war. Ganz brav war sie mitgekommen.
Jetzt saß sie mit angstverzerrtem Gesicht mit ihm in einem Segelboot, in dem die Segel nicht gesetzt waren. Es wurde von einem alten Außenbordmotor, der hin und wieder Aussetzer hatte, angetrieben. Sie hatte erkannt, dass sie in eine Falle geraten war.
Er hatte ihre Füße zusammengebunden und ihr mit einem Knebel den Mund verschlossen. Er wusste nicht, dass sie selbst bei voller Bewegungsfreiheit nicht über Bord gesprungen wäre, denn schwimmen konnte sie nicht. Auch die Knebelung wäre nicht nötig gewesen, denn in der Weite des Jadebusens, auf dem mit der einbrechenden Nacht kein Schiff mehr war, hätte niemand ihre Schreie gehört.
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