Es lässt sich kaum ein weltgeschichtliches Ereignis nennen, das an Bedeutsamkeit der von Deutschland ausgegangenen Reformation gleichkäme. Deren bis heute reichende Fortwirkung hat auch den Schub an Säkularisierung überdauert, dem unsere westliche Welt ab dem 17. Jahrhundert verstärkt unterliegt. Denn Gedanken, die ursprünglich aus der geistlichen Sphäre herrühren, haben in gut nachvollziehbarer Transformation während der Neuzeit unser Staats- und Gesellschaftsverständnis zutiefst beeinflusst, wobei die Ideen der Reformation einen prominenten Platz einnehmen. Das gilt gerade auch für den Geist der Verfassung (Grundgesetz) der Bundesrepublik Deutschland.
Aber, bei allem Jubiläums-Jubel über Luthers so genannten Thesenanschlag an der Schlosskirche zu Wittenberg: Die katholische Seite mag sich lange schwer getan haben, dem zu Wittenberg initiierten Freiheits-Pathos ihrerseits zu folgen. Doch in unserer Zeit öffnet sie sich diesem ebenfalls, und das mit einer theologischen Grundierung, wie sie spätestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil vorliegt. So sind die Kirchen immer weniger eine abgeschlossene Gesellschaft, die der Moderne halbwegs ratlos gegenüber steht, sondern gleichberechtigte Akteure in unserem aktuellen Pluralismus und, wenn sie ihre Rolle wohl verstehen, unverzichtbare Stimmen darin.
Im deutschsprachigen Bereich blicken die beiden großen Kirchen mittlerweile auf ein halbes Jahrtausend der Symbiose zurück, die als ebenso spannungsgeladen wie fruchtbar bezeichnet werden darf, von den anfänglichen Glaubenskriegen über die mühsame Schule der gegenseitigen Toleranz bis hin zu den heutigen ökumenischen Feiern und Gottesdiensten. Deshalb soll diese Darstellung in handlicher und geraffter Form darüber informieren, „was Luther angerichtet hat“ und wie die christliche Welt in Deutschland dadurch nachhaltig geprägt worden ist. Das Jubiläumsjahr 2017 wird am besten dann begriffen, wenn man sich die zugrunde liegende Geschichte, über die da gefeiert wird, noch einmal zusammenfassend vergegenwärtigt.
Dass dabei in abgewogener Weise berichtet werden muss, weder Wittenberg- noch Rom-lastig und ohne Polemik, versteht sich von selbst. Zu der Thematik gibt es eine Menge dickleibiger Schmöker, und vollends die wissenschaftliche Fachliteratur ist schon lange nicht mehr überschaubar. So hat der Autor versucht, die wesentlichen Punkte der Entwicklung in übergreifender Schau zusammenzufassen, um ein generelles Profil aufzuzeigen, von dem aus dem an speziellen Gegenständen interessierten Leser der Weg zur Vertiefung offensteht.
Geistesgeschichtliche Zusammenhänge, die auch uns noch etwas angehen, müssen erwähnt werden, denn Geschichte ist niemals nur Vergangenheit. Aber wohlfeile Aktualisierungen brauchen wir nicht. Große Jahrestage verfallen beim Gedenken an sie leicht der Tendenz des als borniert gezeichneten Famulus Wagner aus Goethes „Faust I“:
„Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht,
Und wie wir’s dann zuletzt so herrlich weit gebracht“.
Da ist der Glaube an den linear aufsteigenden Fortschritt artikuliert. Doch wenn die Reformation auch den ersten Anstoß zu einem politisch-gesellschaftlichen Zustand gegeben hat, den wir als den Fortschritt in der abendländischen Neuzeit begreifen dürfen, müssen wir dennoch vorsichtig darin sein, den Optimismus des Famulus Wagner ungebrochen zu teilen.
München, am Reformationstag 2016
Kapitel eins:
Zwischen Wittenberg und Rom. Die Reformation und die Folgen
Das wäre eine suggestive, geradezu filmreife Szene gewesen: Mit flatterndem Gewande schlägt der Augustiner-Eremiten-Mönch und Professor der Theologie Martin Luther seine 95 lateinischen Thesen, später auf Deutsch mit der Überschrift „Propositiones wider das Ablas“, an der Schlosskirche zu Wittenberg an. Es ist der 31. Oktober 1517, der Vortag zu Allerheiligen. Und was eigentlich nur der übliche akademische Weg war, eine gelehrte Disputation über das kirchliche Ablasswesen einzuleiten, das Luther nicht grundsätzlich ablehnte, doch dessen theologische Durchdringung noch zu wünschen übrig ließ, wurde wegen des unerwarteten Widerhalls in einer immer breiteren Öffentlichkeit zum Ausgangspunkt der epochalen Reformation und einer massenhaften Loslösung von der Papstkirche bis auf den heutigen Tag.
Dass Luther am 31. Oktober derart publikumswirksam aufgetreten ist, wird indessen vielfach bezweifelt. Jedenfalls hat Luther am selben Tag an Erzbischof Albrecht von Magdeburg geschrieben, seinen kirchlichen Vorgesetzten, der gleichzeitig Administrator des Bistums Halberstadt und als Erzbischof von Mainz und damit als Erzkanzler des Heiligen Römischen Reichs dessen ranghöchster geistlicher Würdenträger war. In seinem Brief bat Luther den Erzbischof, die Ablassprediger in genauere Disziplin zu nehmen, seine Instruktionen für sie zurückzunehmen und vielleicht die beigefügten 95 Thesen zur Kenntnis zu nehmen. Albrecht reagierte, indem er die Thesen an die Universität Mainz überwies, damit man zu einem Verbot an Luther komme, sich weiterhin über das Ablasswesen zu äußern. Zudem wurde der Fall nach Rom gemeldet, wo auch Papst Leo X. (1513 – 1521) die theologischen Fachleute mit ihm befasste.
Dabei ging es um hohe finanzielle Interessen sowohl der Kurie als auch des doppelten Erzbischofs, denn das Prinzip dabei war Sündenvergebung gegen Geldzahlung nach genau gestaffelten Taxen. Das klang nach Missbrauch eines geistlichen Vorgangs zugunsten fiskalischer Ausbeutung, war zwar schon jahrhundertelang praktiziert, aber auch kritisiert worden, beispielsweise von den der Kirche verhassten „Erzketzern“ John Wiclif (in England, Ende des 14. Jahrhunderts) und Jan Hus (in Böhmen, Anfang des 15. Jahrhunderts). Das Neue, das nun Weltgeschichte machte, bestand darin, dass aus dem anscheinend eher begrenzten Thema eine Bewegung entstand, nicht unter den Fachgelehrten, denn die nahmen Luthers Diskussionsangebot gar nicht an, sondern im „Volk“. Die Thesen wurden schnell ins Deutsche übersetzt, fanden durch den zwei Generationen zuvor erfundenen Buchdruck eine Verbreitung, wie es mittelalterlichen Handschriften niemals hatte gegeben sein können, und schlugen bei Gebildeten wie bei weniger Gebildeten gleichermaßen ein. Luther schien durch seine Aufmüpfigkeit eine schon länger vorhandene Stimmung unter den Deutschen getroffen zu haben, die nun zum – man darf schon sagen – Ausbruch kam.
Diese Stimmung wandte sich in einer bis dahin noch nicht erlebten Stärke gegen die römische Kirche und deren Wirken in Deutschland; nationale Töne schwangen ebenfalls schon mit. Es ging letztlich nicht nur um den Widerstand gegen kuriale Übergriffe finanzieller, administrativer und allgemein-politischer Art, so zahlreich sie auch sein mochten, sondern um das universale Thema einer Kirchenreform, denn die innerkirchlichen Zustände wurden als immer weniger vereinbar mit dem geistlichen Auftrag der Kirche wahrgenommen. Die fortbestehende intensive Frömmigkeit in der Bevölkerung fand zu wenig Befriedigung in dem Angebot der institutionalisierten Heilsanstalt, als die die Kirche sich definierte. Dass daraus der dauerhafte Abspaltungsprozess der Reformation hervorging, war einerseits zwar nicht frei von historischen Zufälligkeiten, hatte andererseits aber auch einen jahrhundertelangen Vorlauf, der die Abspaltung in ihrer nicht zu brechenden Vitalität erklärlich machte. Auch wenn wir uns nicht dazu versteigen wollen, deshalb von einer historischen Notwendigkeit zu sprechen, denn das könnte leicht eine geschichtsphilosophische Überanstrengung sein, sind doch langwirkende Kausalketten feststellbar.
Beginnen wir mit der Verstrickung der römischen Kirche in die große Politik, mit dem Höhepunkt unter den bedeutendsten Päpsten des 13. Jahrhunderts. Schon damals hatten die Franziskaner als neuartiger Bettelorden dagegen die Rückkehr zur apostolischen Einfachheit und Armut der Urkirche gefordert. Auch die neugegründeten Dominikaner gingen betteln. Es ist der Amtskirche gelungen, diese Bewegungen kurz nach ihrem Auftauchen im Wesentlichen in ihre Strukturen zu integrieren – weshalb katholische Autoren meinen, das sei bereits die „Reformation“ gewesen, und die nachfolgende Luthers hätte es also nicht mehr gebraucht.
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