Ich war ein gutes Jahr nicht in Masagati gewesen. Zuletzt war ich im Mai 2005 oder so hier gewesen. Damals hatte ich für die 97 Kilometer von Lugala bis Taveta 8 Stunden gebraucht. Gestern hatten wir ›nur‹ 6 Stunden gebraucht. Der Weg war immer noch fürchterlich gewesen, aber wir hatten die Motorräder nicht mehr durch tiefen Schlamm schieben müssen.
Ich fuhr los. Der Motor der Honda brummte sanft und Vertrauen erweckend. An der Schule vorbei und ein paar Häusern. Dann nach links über die Brücke aus oben gegabelten Baumstämmen und Bambus. Der Weg war breit genug für ein Auto. Auf dem Weg entlang schlängelte sich dann ein Pfad, der von Fahrrädern benutzt wurde und glatt gefahren war. Autos kamen hier ja praktisch nie her. Und diesem Pfad auf dem Weg folgte ich natürlich auch mit dem Motorrad.
Die lange Steigung, die ich nur im ersten Gang schaffen konnte. Auf der anderen Seite der steile Abhang, auf dem die Honda, wenn ich von Taveta kam, immer aufgab. Jedenfalls wenn wir zu zweit auf einem Motorrad saßen. Dann das lange Tal entlang. Ich überholte einen Mann mit seiner Frau auf dem Fahrrad. Sie war, ja weshalb eigentlich, bei mir gewesen. Sie waren aus Ipinde, 25 km von Masagati. Es waren zu viele Patienten gewesen, ich konnte mich schon nicht mehr daran erinnern, was sie alle hatten. Bei zwei Patienten hatte ich den Verdacht gehabt, sie könnten HIV positiv sein. Und sie waren es auch. Ich hatte ihnen raten können, nach Lugala zu kommen, um die CD4 Zellen zu zählen und um mit einer Behandlung anzufangen, so das schon sinnvoll war.
Auf der anderen Seite vom Tal Hügel mit abgeholzten kahlen Flecken. Aber es war noch alles grün, und irgendwie sah es nicht so schlimm aus wie vor einem Jahr.
Gelegentlich eine Hütte, gelegentlich ein Hund, der uns bellend ein Stück folgte. Ein Quertal von rechts. Der Pfad schlängelte sich durch abgeerntete Reisfelder. Die Reisernte sei dieses Jahr so gut gewesen wie seit Jahren nicht, hatte Pater Liume erzählt. Doch nun wüssten die Leute nicht, wohin mit dem Reis. Keine Händler, die ihn aufkauften. Die Straße bis Taveta war so schlecht, dass keiner sich traute, seinen Lastwagen auf diese achsenbrechende Strecke zu schicken. Nur ein paar junge Männer, die Reis auf Fahrrädern nach Mlimba schafften. Zur Bahnstation dort. Und mit den berühmten süßen Apfelsinen wüssten sie dieses Jahr auch nicht, wohin damit. Sie würden auf den Bäumen verfaulen, weil niemand komme, um sie aufzukaufen.
Hinter einer holprigen kleinen Brücke wollte ich irgendetwas zu Kuandika sagen. Er war nicht da. Ich saß allein auf dem Motorrad. Ich war völlig verdutzt. Traute fast meinen Augen nicht. War er gar nicht aufgestiegen? War ich ohne ihn losgefahren, weil ich es so eilig gehabt hatte? War er unterwegs vom Motorrad gefallen? Aber das konnte doch nicht sein. Und wenn doch, hatte er sich womöglich beim Sturz etwas gebrochen? Ich wendete und fuhr zurück.
Das lange Tal entlang. Durch das Quertal. Das lange Tal entlang, immer auf dem Pfad, der sich auf dem Weg entlang schlängelte. Fast bis zum Fuß von dem steilen Anstieg. Da hüpfte Kuandika mir entgegen. Lachte. Ja, er war hinten rüber vom Motorrad gefallen. Beim langen Anstieg, als ich über einen Hubbel fuhr. Nein, ihm war nichts passiert, er hatte sich nicht verletzt. Ja, es war wirklich alles in Ordnung. Ich schüttelte den Kopf. Ich wendete wieder, ließ Kuandika wieder aufsteigen, fuhr wieder los.
Immer wieder lange Täler entlang.
Durch Quertäler.
Über die große Brücke.
Ich hatte es eilig.
Rechts schon der Mnyera. Ein schönes Land: noch bewaldete Hügel, sanfte Täler, Apfelsinenbäume entlang dem Weg, in denen die »Goldorangen glühten«.
Schade, dass ich es so eilig hatte.
Taveta. Hoch zur großen Kirche und zum ehemaligen Kloster, in dem jetzt nur noch Pater Liume wohnte. Die schweizer Mönche waren in den fünfziger Jahren fort gegangen. Nur ihre Bücher hatten sie zurückgelassen. »Wie Gott Mensch wurde«.
Die Patienten saßen draußen auf Bänken. Nicht ganz so viele, wie ich befürchtet hatte. Manche waren wohl auch nach Masagati gekommen, um mich dort zu sehen. Ich bat Kuandika mir zu helfen. Den Gesundheitsposten hatte Pater Liume schließen müssen. Der clinical officer, den ihm die Regierung (der Distrikt Medical Officer) geschickt hatte, hatte gesagt, er müsse erst einmal seine Eltern besuchen. Und die Krankenschwester war nach Ifakara gegangen, um ihre kranke Mutter zu pflegen. Hatte sie gesagt.
»Hier will einfach niemand arbeiten …«
Der erste Patient: Eltern, die ihr Kind brachten. Es lahmte auf dem linken Bein. Ja, es hatte eine intramuskuläre Spritze bekommen. Hier im Gesundheitsposten. Im Mai. Und seitdem lahmte es.
Ich erklärte, dass ein Nerv durch die Spritze beschädigt worden sei. Dass es keine Behandlung dafür gebe. Aber dass sich der Nerv vielleicht erholen würde. Mit ein bisschen Glück.
Der zweite Patient: Ein Vater, der sein Kind brachte. Es lahmte auf dem rechten Bein. Ja, es hatte eine Spritze in den Popo bekommen. Hier im Gesundheitsposten. Im April. Und seitdem lahmte es.
Ich erklärte, dass ein Nerv durch die Spritze beschädigt worden sei. Dass es keine Behandlung dafür gebe. Aber dass sich der Nerv vielleicht erholen würde. Mit ein bisschen Glück.
Der dritte Patient: Ein Vater, der sein Kind brachte. Es lahmte auf dem linken Bein und hatte eine Fissur an der Ferse. Ja, es hatte eine Spritze bekommen. Ins Gesäß. Hier im Gesundheitsposten. Im Oktober letzten Jahres. Und seitdem lahmte es.
Ich erklärte, dass ein Nerv durch die Spritze beschädigt worden sei. Dass es keine Behandlung dafür gebe. Aber dass sich der Nerv vielleicht erholen würde. Mit viel Glück. Denn eigentlich habe sich der Nerv inzwischen schon erholen müssen. Und die Fußsohlen sollten sie nach dem Baden dünn mit Vaseline einreiben.
Ich dachte, ich wäre im falschen Film.
Der vierte Patient. Eine Frau knapp dreißig mit ihrem Kind auf dem Arm. Sie zeigte mir ihre hypopigmentierten Hautflecken. Ihr sei eine Salbe verschrieben worden. Ja, hier im Gesundheitsposten. Aber die habe sie nirgends bekommen können. Auch nicht in Mlimba.
Lepra. Multibazilläre Lepra. Ganz offensichtlich. Schon zwei verdickte Nerven. Aber noch keine offensichtlichen Nervenschäden.
»Wenn Sie jetzt sofort nach Lugala kommen, können wir Ihnen noch helfen. Wenn wir jetzt sofort mit der Behandlung anfangen, können wir Sie noch heilen, ohne dass Sie zu Schaden kommen! Warten Sie nicht. Kommen Sie. So weit ist Lugala auch nicht. Es lohnt sich!«
Ich war plötzlich froh. Der Tag, die Mühe hatten sich gelohnt (wenn die Frau kam). Meine Müdigkeit war plötzlich wie weggeblasen.
Der Himmel war plötzlich ganz blau.
[26. August 2006]
Ob Gynäkologen in Deutschland auch dauernd von Patientinnen aufgesucht werden, die entweder einen unerfüllten Kinderwunsch haben oder Schmerzen beim Bumsen oder sowohl als auch? Dann bin ich nur froh, dass ich kein Gynäkologe geworden bin. Moses und ich müssen uns jedenfalls mindestens einmal jede Woche mit einer solchen Patientin befassen. Und wir können uns dann nicht hinter einem Wall aus Laborergebnissen verschanzen. Wir können nur die Spermien beim Mann zählen und, so wir Urografin haben, nachschauen, ob die Tuben bei der Frau durchlässig sind. Na ja, wir können auch eine Spekulumuntersuchung machen und einen Schallkopf auf den Bauch halten. Aber dabei findet sich ja nur höchst selten etwas Pathologisches. Das ist praktisch reine Zeitverschwendung. Und Urografin haben wir mal wieder nicht. Gab es nicht in Dar es Salaam, als ich im Juni dort war.
Und wenn die Tuben nun nicht durchlässig sind? Moses operiert dann gerne, und vor Jahren soll mal eine Frau nach einer solchen Operation schwanger geworden sein. Ich mache diese Versuche, die Tuben operativ zu öffnen, nicht mehr. Ich empfinde diese Operationen als Betrug. Ich habe mal einen Gynäkologen, der für eine Woche nach Lugala kam, gefragt, wie hoch die Erfolgsrate von Tubenoperationen in seinen Händen sei. Null, antwortete er mir, aber die Frauen haben nach einer solchen Operation für zwei drei Jahre wieder Freude und Hoffnung; und das ist auch viel wert.
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