Währenddessen feierten Alt Rock ’n’ Roller das Comeback von Bill Haley im Blow Up, wurde in Venedig die Biennale für kurze Zeit wegen der internationalen Unruhen geschlossen, traten Amon Düül auf der Kasseler documenta auf. Ich hörte mit Vorliebe die ganze Nacht »Pop till Midnight« von Radio Luxembourg, schrieb für Hit eine Serie über die englische Avantgarde-Bands wie Pink Floyd, Incredible String Band, Johns Children, Peter Greens Fleetwood Mac, John Mayalls Blues Breakers, Move, Traffic, Art, Cream, The Hapshash And The Coloured Coat und über die amerikanischen Westcoast-Gruppen wie Jefferson Airplane, Electric Prunes, Mothers Of Invention, Love, Grateful Dead, The Velvet Underground & Nico, Moby Grape, Vanilla Fudge und Buffalo Springfield, ich sparte auf meinen zweiten Londonbesuch. »The Beat Goes On« sangen die Vanilla Fudge – was denn sonst? Haben wir wirklich schon damals bezweifelt, dass die Rockmusik weiterleben würde? Vom 7. bis 18. Juli gastierten zum ersten Mal Chicken Shack im Münchner Blow Up , wo bisher nur ›Tanzgruppen‹ auftreten durften. Und weil eben die Leute mit ihrer Musik nichts anfangen konnten und sich beschwerten, wurde ihnen auch ein Teil der Gage nicht ausbezahlt. Wir freundeten uns an, vor allem Sängerin Christine Perfect, heute bei Fleetwood Mac, wurde eine gute Freundin von mir. Wenn sie es in ihrem schäbigen Hotel in der Beichstraße nicht mehr aushielten, dann schlichen wir auf mein Heimzimmer und fanden das so aufregend wie heimlich unter der Bettdecke zu lesen. Da rauchte ich auch meinen ersten Joint. »Rauchst du?«, fragte mich Gitarrist Stan Webb, und ich sagte Ja und meinte natürlich Zigaretten. In der Zeit lernte ich alles über Blues und Rhythm ’n’ Blues und was ich sonst über Musik bis dahin nicht wusste. Und das war sehr viel. Wir hatten eine Menge Spaß. Als sie nach London zurückflogen, begann ein reger Briefwechsel. Da spielten im Blow Up die German Bonds aus Hamburg, und die Stones hatten mit »Jumpin' Jack Flash« einen weiteren Hit.
Ein reger Briefwechsel lief auch zwischen Hamburg, wo Harald, der Industriefilmemacher noch immer überregionale Multi-Media-Pläne hatte, zwischen Frankfurt, wo Wolf, ein Freund meines Bruders, beim Hessischen Rundfunk die Welt in Frage stellte, und München ab. Mein Bruder und ich hatten beschlossen, endlich die Konsequenz zu ziehen und unsere Lebens- und Wohnsituation radikal zu ändern. Da der Verlag vor der Liquidation stand und ich mein Heimzimmer nach Beendigung der Ausbildung räumen musste, lag schon aus finanziellen Gründen die Idee einer Kommune nahe. Neben Harald und Wolf wollte auch noch Barbara, eine gemeinsame Freundin von uns, die an der Dolmetscherschule war, mitmachen. Es sollte dennoch kein reiner »Zweckverbund«, sondern eine »kreative Kommune« werden, mit gemeinsamen Projekten und einigem Luxus. Am 28. Juli gaben wir in der Münchner Abendzeitung folgende Annonce auf: »Highlife-müder Millionär mit Haus und Garten, in zentraler Lage, für originelle, geldarme, obdachlose Clique mit Zukunft gesucht. Familienanschluss wird geboten.« Wir waren naiver als es die Polizei erlaubte und träumten von angetörnten Millionären, Postboten, Bankbeamten und Straßenbahnschaffnern.
Vom Verlag wurde ich großzügig abgefunden, da ich ja nun unverschuldet arbeitslos war. Mein Bruder entschloss sich, freiberuflich zu schreiben, ich wanderte erst mal zum Arbeitsamt, fand das aber dann doch lächerlich. Die Wohnsituation wurde immer brisanter, der Wunsch nach Selbstverwirklichung zur Besessenheit. Mit Barbara rannte ich erfolglos durch die Stadt, schickte nebenbei an Pop, eine neue Musikzeitschrift in der Schweiz, Manuskripte. Die Chicken Shack - Geschichte kam wieder zurück. Wolf wurde wankelmütig, auch Harald machte nach reichlicher Überlegung einen Rückzieher. Täglich hatten wir neue Kandidaten für das Wohnprojekt, ob wir menschlich miteinander klarkommen würden, wurde nie in Frage gestellt, solange die Leute »originell, nicht-bürgerlich und kreativ« waren.
Musikalisch war in diesem Monat eine ganze Menge los. Das erste Album Big Pink der Bob Dylan-Begleitband The Band erschien, beim Newport Pop Festival traten Tiny Tim, Jefferson Airplane , Country Joe & The Fish, Grateful Dead, Chamber Brothers, Quicksilver Messenger Service, Byrds, Alice Cooper, Steppenwolf, Sonny & Cher, Canned Heat, Electric Flag, Butterfield Blues Band, Eric Burdon, Blue Cheer, Iron Butterfly, Illinois Speed Press vor circa 40.000 Leuten auf, die Beatles-Biographie Alles was du brauchst ist Liebe von Hunter Davies erschien und deren erste Single »Hey Jude « auf dem hauseigenen Label Apple, und The Crazy World Of Arthur Brown hatte mit »Fire« einen Riesenhit. In diesem Monat verhängte auch das Oberlandesgericht München gegen den Kommunarden Fritz Teufel ein sechsmonatiges Hausverbot für den Justizpalast und das Amtsgericht »wegen Ruhestörung der Verhandlungsführung«.
Da saß ich schon im Zug nach Hamburg mit einem neuen ASTA-Flugticket für London. Eine Woche verbrachte ich unter Blankeneses linker Schickeria, dann hatte ich die Nase voll und flog nach London, dieses Mal mit vollem Programm und bestens vorbereitet. Mein Domizil schlug ich im Haus Ainger Rd. 12, beim Finchley Park, gleich um die Ecke von Middle Earth , Chalk Farm, auf. Dort wohnten die Chicken Shack , gingen Fleetwood Mac, Ten Years After, The Nice und auch John Mayall, Musikkritiker vom Melody Maker und New Musical Express, ein und aus, konnte ich von morgens bis abends Interviews machen und Blues hören. Während ich durch die Clubs und Pubs von London und Umgebung rannte, marschierten am 21. August russische Truppen in die ĈSSR ein und beendeten den »Prager Frühling«. Während ich die Pretty Things, Bonzo Dog Doo Dah Band und Yellow Submarine sah, tobte vom 25. bis 28. die Schlacht von Chicago. Als großes Yippie-Festival von Jerry Rubin während des Parteikonvents der Demokraten geplant, wurde die Manifestation der New Left , an der anfangs etwa zweitausend Hippies, Yippies und Black Panthers, begleitet von der Musikgruppe MC 5 teilnahmen, und die im Verlauf der Kämpfe auf 12.000 anwuchsen, von 25.000 Soldaten, Nationalgardisten und Polizisten nieder geprügelt. Es gab einen Toten und unzählige Verletzte.
»Won’t you please come to Chicago just to sing
in a land that’s known as freedom
how can such a thing be fair?«
Graham Nash
Tags darauf erlebte ich mein erstes Festival Isle of Wight mit Jefferson Airplane , The Doors, Arthur Brown und anderen. In den USA setzten die Radiosender »Street Fighting Man«, die neue Single der Rolling Stones, wegen »Aufforderung zur Gewalt« auf die schwarze Liste, hatten die Doors mit »Hello, I Love You« einen neuen Hit.
»Eine experimentierfreudige Gruppe von Schülern der Akademie der bildenden Künste München veranstaltet am 3. und 4. September jeweils von 21 bis 1 Uhr im Beatlokal Blow Up eine totale Show unter dem Titel The Transparent Vacuum Show. Vier Stunden lang wird das Publikum mit dem Versuch konfrontiert, die von der Gruppe verwendeten Elemente, Licht, Ton, Architektur und Kybernetik, zu koordinieren. Im Blow Up sollen auf etwa zwölf im ganzen Raum verteilten Leinwänden gleichzeitig Underground-Filme ablaufen, Dias projiziert werden und Episkope arbeiten. Die Band Amon Düül, deren Mitglieder in einer Kommune leben, und die Ende September bei den Essener Song-Tagen mitwirken wird, bringt eine beachtliche Tonmaschinerie in Gang, die von einer Tonband- und Schallplattenanlage unterstützt wird. Lichtmaschinen statt normaler Beleuchtung sollen den visuellen Eindruck ergänzen«, kündigte Rainer Thiele am 1. September in der Münchner Abendzeitung ein Ereignis an, das ich wiederum versäumen sollte. Dafür saß ich auf einer verregneten Wiese in Parliament Hill Fields, um ein Open-Air-Konzert der Jefferson Airplane zu hören. Und abends stand ich mir im Athletic Club die Beine in den Bauch, um Pink Floyd und ihre Lightshow live zu sehen. Am 5. September erhielt ich einen Brief von meinem Bruder: »gerade läuft bei mir die neue platte der doors : waiting for the sun, die jemand aus schweden mitgebracht hat. du kennst sie wahrscheinlich schon, jedenfalls finde ich sie so große klasse, dass ich mich nun endgültig entschlossen habe, über die doors einen größeren artikel zu schreiben, vielleicht für die süddeutsche zeitung, die mir grade ein irres buch zur besprechung gegeben hat. es heißt das bonbonfarbene tangerinrot-gespritzte stromlinienbaby von tom wolfe, dem verrücktesten reporter amerikas. rowohlts werbetext lautet: ›ein fanfarenstoß für die revolution der teenager und die neue pop-kultur, die hierzulande den vertretern des kulturellen establishment in die glieder fahren wird.‹ geschrieben ist es oft, als wäre ein disc-jockey von radio luxemburg am werk, dann habe ich noch einen film für dich, er heißt agilok & blubbo und läuft anfang oktober in münchen an. bei der pressevorführung gab es überwiegend entsetzen und sprachlosigkeit... ich werde dich, wenn es geht, mit dem regisseur peter f. schneider und vor allem dem musikmann des films, irmin schmidt (can), zusammenbringen, denn agilok ist knallvoll mit einem beat, wie er in deutschland nicht möglich schien, die songs sind noch besser, als die bei moorse, dessen neuer film übrigens nicht so groß ist. ansonsten ist schneiders film vulgär, poetisch, maßlos, schön, zart und brutal wie kein anderer junger film der letzten zeit, allerdings glaube ich, dass er beim breiten publikum durchfallen wird, weil er zu anarchistisch und gammlerhaft ist. die beiden typen in dem film laufen dauernd in alten wüst-gestreiften anzügen herum, langen schwarzen mänteln á la django und haben selbst im bett ihre schlapphüte auf. genauso erschien dann auch schneider bei der pressevorführung, eine verrostete maschinenpistole aus dem film in der hand. das mädchen rosy-rosy trägt russenkittel, maxikleider und -mäntel ... wenn du zufällig einen billigen robin hood-hut findest, am besten gebraucht, schwarz oder dunkelbraun, dann bring ihn mit ...«
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