Ende des Monats wurde ich abermals vom Literarischen Kolloquium nach Berlin eingeladen. Man wollte über Produktionsmöglichkeiten für die vorliegenden Drehbücher reden. Ich saß meist im Kino. Die Freunde der deutschen Kinemathek führten von Helmut Costard, Marquard Bohm u. a. Kurzfilme vor, veranstalteten eine Woche des New American Cinema . Nachts zog ich durch die schon damals lebendige Berliner Kneipen- und Diskothekenszene. Besonders beliebt die drei Edens – Big Eden, Kurfürstendamm, Verzehrbon zwei DM, gemütlich, mit englischen Discjockeys und farbigem Flackerlicht, bis 3 Uhr geöffnet. Nicht weit davon der Eden-Playboy-Club, Eintritt eine DM, für Mädchen solo umsonst (Playboyclub!), Bikini-Go-Go-Girls, Swimmingpool, Showtanzen, Trickfilme, Spielautomaten, bis 5 Uhr morgens. Und der Old Eden Saloon, Damaschkestraße, Verzehrbon zwei DM, mehrere Räume mit verschiedener Musik, Soul, Beat, Jazz. Zwischen überlebensgroßen Aktfotos stehen Kakao-Automaten, Spielautomaten, Fernseher, Satelliten-Imitationen als Biertransporter. Man kann ruhig die gewagtesten Klamotten anziehen, sie fallen nämlich gar nicht mehr auf. – Besonders »in« war grade das Riverboat, Hohenzollerndamm, vier Bands gleichzeitig plus Diskothek. »Berlins größtes Action-Center, Bullaugen, Teakholzwände, riesige ineinander verschachtelte Räume. Für Frei- und Frischluftfanatiker gibt es eine Terrasse, wo getanzt werden darf. In der kleinen Bar kann man sich mit Würstchen, Sandwich oder Espresso aufmöbeln. Alles, was beatig, popig, opig, munter, bunt und heiter, gammlig oder elegant großes Treiben erleben möchte, sollte die ›Liftfahrt‹ unternehmen«.
Alles schien möglich. In Berlin hatte ich einen Industriefilmemacher aus Hamburg kennengelernt, der träumte von einem überregionalen Multi-Media-Verband für Musik, Film, Kunst, Werbung unter dem Motto »das permanente Happening«. Mein Bruder hatte jemanden getroffen, der Deutschlands ersten Boutiquen-Führer für Insider drucken wollte. Ich jobbte derweil in Münchens erster Boutique Daisy als Aushilfsschneiderin. Frei nach dem Vorbild von Mary Quant. Was fehlte, war eine »progressive Modezeitschrift«. Fand ich jedenfalls. In München wurde die Hochschule für Film und Fernsehen eröffnet, Hamburger Studenten lieferten anlässlich einer Uni-Feier die Parole »Unter den Talaren — Muff von 1000 Jahren«. Das war, nach »Traue keinem über 30« der zweite Spruch des Jahres. Ebenfalls im November wurde als erste überregionale alternative Musikzeitschrift Amerikas der Rolling Stone gegründet. In Berlin kommt es bei der Prozesseröffnung gegen den Kommunarden Fritz Teufel erneut zu Demonstrationen. Ich erhalte kurz darauf zwei Absagen von Fernsehsendern, denen ich mein Drehbuch angeboten hatte.
Die Engländer feierten ihr Weihnachtsfest mit der Fernsehausstrahlung von Magical Mystery Tour, dem ersten Film, den die Beatles selbst gedreht hatten.
Das Jahr, das uns Flower Power und APO, Op-Art und Twiggy, The Mothers Of Invention und A Whiter Shade of Pale, das Filmförderungsgesetz und die erste Herzverpflanzung, Klaus Lemkes 48 Stunden bis Acapulco und May Spils Zur Sache, Schätzchen , den Begriff male chauvinism und die Heirat von Elvis Presley, die Abiturrede »Erziehung zum Ungehorsam« und das Telekolleg im Bayerischen Fernsehen, Marshall McLuhans »Magische Kanäle« und das Schlagwort von einer »Talsohle« in der Wirtschaft gebracht hatte, war vorbei. Doch die eingeläutete Sturm-und-Drang-Zeit hielt sich nicht an den Kalender. Keine Neujahrsansprachen, keine guten Vorsätze und pädagogischen Mahnungen konnten uns aufhalten. Wir hatten uns entschlossen, freiwillige Outlaws zu werden, nach dem Motto der neuen Rolling Stones-LP »Their Satanic Majesties Request«:
»It's so very lonely
you’re two thousand light years from home.«
KAPITEL 2
Aus Bonbons werden Bomben
»Let's hear it for the good guys, hooray!
Let’s hear it for the bad guys, boo!«
Country Joe McDonald
»Sing this song all together (see what happens).«
The Rolling Stones
Im Frühjahr 1968 gehörten die Alben der Gruppen Quicksilver Messenger Service, Moby Grape, Steve Miller Band, Country Joe & The Fish und Creedence Clearwater Revival zu den Topsellern der Billboard-Charts in Amerika. Auch hierzulande wuchs das Selbstbewusstsein und versetzte die Protestbewegung in einen beängstigenden Machtrausch. Doch welche Folgen ein harmloser Studentenulk á la »Feuerzangenbowle« hatte, zeigte das bereits verschärfte, paranoide Klima. Am 10. Januar hatten in München zwei Studenten in ausgeliehenen Polizeiuniformen eine Uni-Vorlesung gesprengt und wurden dafür im April zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen verurteilt. Vorbei war es mit der Parole »Die Phantasie an die Macht!« Es sollte nicht mehr lange dauern, bis die »organisierte Gegengewalt« das Kampfmittel Polit-Happening ablöste, und dass statt Bonbons Bomben flogen. Die Kommune I zeigte Verfallserscheinungen, nachdem Rainer Langhans das Münchner Topmodell Uschi Obermaier nach Berlin geholt hatte. Im Februar wurde in Berlin beim »Springer-Hearing« ein Lehrfilm von Holger Meins über die Herstellung von Molotow-Cocktails vorgeführt. Noch in derselben Nacht wurden von Unbekannten bei sieben Morgenpost-Filialen die Fensterscheiben eingeworfen. Auch die amerikanische Hippie-Bewegung machte eine Radikalisierung durch, die von den Anarcho-Gedanken Abbie Hoffmans und Jerry Rubins begeisterten Jugendlichen firmierten nun als Yippies und lieferten sich am 18. Februar in San Francisco mit der Polizei eine Straßenschlacht. Zur gleichen Zeit fand in Berlin der »Internationale Vietnamkongress« statt.
Sicher war es ein Zufall, dass zur selben Zeit die fröhliche Ballade vom anarchistischen Gangsterpärchen Bonnie & Clyde in der Hitparade stand.
Im März erschien die erste LP Bob Dylans nach seinem Motorradunfall 1966, John Wesley Harding. Wie immer waren in den Texten visionäre Bilder, treffende Aussagen:
»No martyr is among you now
whom you can call your own
but go on your own way accordingly
and know you're not alone«,
aber auch
»There must be some way out of here
said the joker to the thief
there's too much confusion
I can't get no relief ...«
Songs über Hobos, Kämpfer, Outlaws, Heilige, Narren – was hätte besser in die Zeit gepasst? Und in Sounds 3/68 hielt mit einer Besprechung der Mothers - LP »Freak Out« endlich die Popmusik Einzug. Schon im Monat darauf kam ein Bericht über die San-Francisco-Szene. Deutschland hatte endlich seine alternative Musikzeitschrift. Deutschland hatte aber auch noch seine Bravo und Hit, bei der ich inzwischen zum ständigen freien Mitarbeiter avanciert war.
Und so las sich da die April-’68-Mischung: »Engelbert, mit 32 Jahren das Idol von Teenagern und Großmüttern in aller Welt, spürt plötzlich, dass die revoltierende Jugend auf ihn Eindruck macht. In diesen Wochen, in denen er wieder mit einem Hit ›Am I that Easy to Forget‹ die Hitparaden vieler Länder anführt, prophezeit er im Hinblick auf seine künftige Karriere einen musikalischen Wandel: Mit mehr PS ins internationale Showbusiness. – Nach großem Krach in der Gruppe Manfred Mann ist die Crew wieder vereint und auf Anhieb mit einem Hit im Schlager-Weltgeschehen zur Geltung gekommen: ›Mighty Quinn‹. Ein Mann, ein Wort, kann man bei Manfred Mann sagen, denn in einem Interview meinte er zur Schlagerszene unerschrocken: Der Rundfunk macht unser Geschäft kaputt! – Hitparade des Monats April: ›World‹, Bee Gees, ›Hello, Goodbye‹, Beatles, ›Massachusetts‹, Bee Gees, ›Mama‹, Heintje, ›Daydream Believer‹, Monkees, ›Doch dann kamst du‹, Ronny, ›2000 Lightyears from Home‹ , Rolling Stones, ›The Letter ‹, Box Tops, ›Morning of my Life‹ , Esther und Abi Ofraim, ›The Ballad of Bonnie and Clyde‹ , Georgie Fame. – Was wird aus den Mamas & Papas? – Die Monkees sind eine der erfolgreichsten Bands in den USA. Bisher haben sie zehn Millionen Single-Platten und fast dreizehn Millionen Langspielplatten verkauft. – Das Leben ist ein verrückter Spaß. So heißt die Devise der Who – Keith Moon, John Entwistle, Roger Daltrey und Pete Townshend –, die sie täglich in die auffallendsten Taten umsetzten. Wer diese quirligen Vier mal aus der Nähe erlebt hat, weiß, dass man bei ihnen auf die tollsten Sachen gefasst sein muss. – The Cream: ›Sunshine of Your Love‹ : Modern gesetzter Gruppengesang unterscheidet die Cream heute von früheren Aufnahmen. Der Background ist hart und zugleich mystisch verträumt. Die Cream im Trend unserer Zeit. Eine Platte für Freunde des zeitgemäßen Beat.«
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