Am 3. April explodierten nachts in zwei Frankfurter Kaufhäusern Sprengsätze. »Burn, warehouse, burn!« Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Söhnlein und Thorwald Proll, wurden tags darauf verhaftet und im Oktober zu einer Zuchthausstrafe von jeweils drei Jahren verurteilt. Am 4. April wurde Martin Luther King ermordet, am 11. April Rudi Dutschke bei einem Attentat schwer verletzt.
Hüben wie drüben kam es zu spontanen Aufständen, Unruhen, Straßenschlachten, Eskalation der Gewalt. Amerika wurde durch bürgerkriegsähnliche Kämpfe in 125 Großstadt-Gettos erschüttert, Deutschland durch die Osterunruhen – ihr Ziel: die Springer- Redaktionen und -Fillialen! Solidaritätsdemonstrationen weltweit, von Amsterdam bis Washington. In München sah es so aus: Am Karfreitag, einen Tag vor dem Dutschke-Attentat, wurde die Redaktion der Bild-Zeitung gestürmt, es kommt in der Barerstrasse zu erbitterten Straßenschlachten, die, über die ganze Stadt verteilt, bis Ostermontag andauern. An diesem Tag geht in München ein Kulturspektakel über die Bühne, für das Eberhard Schoener, heute Deutschlands experimentierfreudigster Komponist, verantwortlich zeichnete. In der Süddeutschen Zeitung vom 17. 4. 68 schrieb Florian Fricke, der bald mit seiner Gruppe Popol Vuh selbst den Weg zum Musiker einschlagen sollte, über »Alteraction« im Münchner Haus der Kunst: »Abgesehen vom Resultat und auch davon, dass das ›Neue‹ ja nicht eigentlich neu war, nur eben für München, ist der Versuch zu begrüßen und selbst in seinem Misslingen interessant.« Helmut Lesch fand in der Abendzeitung das »Morphinisten-Gestammel ... trotz allem: ein sehenswertes Experiment«. Und der Spiegel berichtete: »Den Münchnern im (Haus der Kunst) schlug die von Macchi erstrebte Provokation bislang nicht aufs Gemüt ... überdies: Draußen auf den Münchner Straßen, soviel war sicher, wurde zur gleichen Zeit weit eindringlicher provoziert.« – Soviel zu (A)lter A(ction) von A. Artaud, von Eberhard Schoener, Florian Furtwängler und Tatiana Massine initiiert ...
An diesem Tag wird der AZ- Fotoreporter Klaus Frings von einem Pflasterstein tödlich getroffen. Der Student Rüdiger Schreck erliegt ebenfalls seinen Verletzungen. Beide Fälle bleiben, wie unzählige andere, unaufgeklärt. Nach der Belagerung des Buchgewerbehauses am 16. April sieht die Bilanz der »Osterunruhen« so aus: über 60.000 Demonstranten aller Bevölkerungsschichten wurden von 21.000 eingesetzten Polizisten bekämpft, die 1.000 verhafteten, darunter auch völlig unbeteiligte Bürger. Man zählt über 4.000 Verletzte. Seit der Weimarer Republik hat Deutschland keine Straßenschlachten in diesem Ausmaß erlebt.
Einen klaren Kopf behielt nun keiner mehr, auf beiden Seiten trat anstelle kühler Überlegung unberechenbare Willkür. Der erste »Osterdemonstrant« wird am 16. April in München wegen Aufruhrs und Auflaufs zu sieben Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt, gegen weitere 826 werden Ermittlungsverfahren eingeleitet. In einer Bundestagssondersitzung bezeichnete Innenminister Benda den SDS als verfassungsfeindliche Organisation. Was für einen Mai konnte man nach einem solchen April erwarten? Den Heißesten, den es je gab. Doch ausgerechnet im ereignisreichsten und wichtigsten Monat der ganzen 60er-Jahre-Bewegung hatte ich meine Prüfung als Buchhändler vor der Handelskammer abzulegen. Wäre sie einen Monat später gewesen, wer weiß? So kam ich zumindest noch zu einem bürgerlichen Berufsabschluss und konnte guten Gewissens herumexperimentieren. Die politischen Ereignisse hatten sich nach Frankreich verlagert, der legendäre »Pariser Mai ’68« fand jedoch in einem internationalen Protestumfeld statt, von Ankara bis Tokio. In Deutschland hatte die APO zu den 1.-Mai-Kundgebungen des DGB »Gegenkundgebungen« organisiert. Während sich in Paris nach tagelangen Straßenschlachten Arbeiter und Studenten solidarisierten und dort mit Blockaden und Streiks, Besetzungen und Stürmungen die Stadt für einen Monat lahmlegten, waren am 11. Mai in Deutschland 60.000 unterwegs, um gegen die geplanten Notstandsgesetze zu protestieren. Das Kuratorium Notstand der Demokratie hatte diesen Sternmarsch auf Bonn organisiert. Trotz Beteiligung an mehreren Osterdemonstrationen legte ich am 14. meine Buchhändlerprüfung ab, am 15. musste ich für mehrere Wochen zu einem Kursus der Buchhändlerschule des Deutschen Börsenverbands nach Frankfurt.
Anlässlich der zweiten Lesung der Notstandsgesetze im Bundestag kam es an diesem und dem darauffolgenden Tag an den Universitäten und Hochschulen zu Demonstrationen. Am 17. wurden die Notstandsgesetze gebilligt, am 18. wurde auch an der Kunstakademie in München gestreikt.
Am 20. fand dort das sogenannte »Notstandshappening« statt, am 21. versammelten sich 12.000 Notstands-Gegner im Alten Botanischen Garten, und am 24. wurden auf den Bühnen der Theater die sogenannten Notstandsproklamationen verlesen. Und an einem dieser Tage war er – der erste Auftritt der Münchner Gruppe Amon Düül!
Wann genau, da kann sich keiner mehr erinnern. Wen wundert’s bei diesem Chaos, die Welt war alles andere als in Ordnung.
»Wir haben uns bemüht,
diese(s) Märchen so rein wie möglich aufzufassen ...
Kein Umstand ist hinzugedichtet oder
verschönert und abgeändert worden.«
Brüder Grimm
Die Amon Düül hatten sich in der vornehmen Wohngegend an der Prinzregentenstraße einquartiert. Die Musiker-Fraktion der Multi-Media-Gruppe, Chris Karrer, Peter und Uli Leopold und Rainer Bauer, übten ein paar Häuser weiter in einem Keller unter der Aral- Tankstelle. Ihre Erfahrungen mit dem Kommuneleben beschrieben sie in einem Gespräch:
Shrat: »Da residierten wir in der Prinzregentenstraße, wo Ärzte und Rechtsanwälte wohnen. Es war die Zeit, wo man total ausflippte, die Haare immer länger wurden und man nur noch indische Gewänder trug. Wenn man unten die Straße entlangging, öffneten sich oben immer die Fenster und die Leute schrien: ›Vergast gehört ihr!‹ Diese Tour lief da. Das war auch die Zeit, wo es mit den Ideologien losging. Alles flippte etwas ins Kommunegehabe. Alles gleich, alles für alle!«
Chris: »Da hat man nur Leute reingelassen, die irgendwas wie Kopfstand oder so konnten, eine bestimmte Begabung hatten. Man hat sich so echte Hausnarren gehalten.«
Shrat: »Z. B. kam da so ein Engländer und blieb sechs Wochen. Den kannte keiner. Weiß auch nicht mehr, wie der hieß. Der saß sechs Wochen lang immer im Eck und hat nur riesige Butterstullen mit Marmelade drauf gegessen, kochte Tee und sonst nichts! Rührte sich nicht und wurde von allen respektiert.«
Chris: »Ich weiß noch, eines Tages kamen Shrats Mutter und sein Bruder an und wollten ihn polizeilich abführen lassen. Da haben wir ihn versteckt.«
Shrat: »Ich bin ja offiziell nach München gekommen, um Soziologie zu studieren. Und niemand ahnte, was da mit meinem angesparten Geld passierte, dass ich meine und anderer Leute ›flips‹ damit finanzierte. Und nachdem das dann zu Hause durchsickerte ...«
Chris: »Das war eine ›straighte‹ Familie, Zementwerk und so ...«
Shrat: »Damals also, von der Ideologie her, die man so als Obergerüst konstruiert hat, war noch alles möglich: Film, Fotografie, eben Multi-Media! Und Helge immer als Oberpriester. Nie Geschirr abspülen, aber immer sehr erleuchtet! Freud, Nietzsche und Castaneda gelesen! Und dann wurden im 3. Stock die Trips eingeworfen und die ganze Nacht auf volle Lautstärke die erste Anlage, Solton, die ich angeschafft hatte, ausprobiert.«
In einem Interview, das Peter Leopold Ende 1977 im NDR Klaus Wellershaus gegeben hat, beschrieb er die Entstehung der Band so: »Die Ideologen kamen und sagten, jetzt müssen alle Musik machen. Es muss Musik gemacht werden von allen – alle dürfen, die irgendwie können. Das war erst mal ein gesellschaftliches Bedürfnis wie zusammen fernsehen, reden oder ins Kino gehen. Dann haben wir das versucht, auf die Bühne zu transponieren. Aber die Bühne schafft halt doch Abstand. Auf eine Bühne gehört eben nur das, was sich entsprechend vom Durchschnitt abhebt. Wenn dann eine Situation eintritt, wo im Publikum zwanzig Leute sitzen, die besser Gitarre spielen können als der Gitarrist da oben, dann können die Leute unten schon abgetörnt werden. Doch damals dachten wir, das ist ein gutes Modell, das sollte man durchziehen. Und mit der damaligen Einstellung hat man’s eben auch eine Zeitlang durchziehen können.« Wie nachhaltig dann der erste Auftritt der Amon Düül bei einer dieser Notstand-Demos auf die anwesenden Leute gewirkt hat, von denen manche prompt darauf ihre bürgerlich-vorprogrammierte Karriere aufgaben, zeigen zahlreiche Interviews, die ich mit Augenzeugen führte.
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