Big Sur ist keine Instant-Kolonie und keine Touristenattraktion voller Souvenirs und Kunstkram. Man stolpert da nicht einfach rein, vergisst seine Probleme und macht sich mal eben locker. Ein gewaltiger Einsatz ist nötig, um sein Leben hier aus eigener Kraft abzusichern, und eine Menge verdammt harter Arbeit. Wer nur kommt, um sich irgendwo dranzuhängen oder durchgefüttert zu werden, wird sich noch wundern.
In seinem Buch über Big Sur beschreibt Miller die Leute, die er traf, als er ankam. Einige, die von den Touristenströmen deprimiert waren, suchten noch verlassenere Orte auf – Mexiko, die nordwestliche Pazifikküste, griechische Inseln. Viele aber sind geblieben und leben noch genauso wie vor zehn Jahren:
»Diese jungen Menschen, gewöhnlich in ihren späten Zwanzigern oder frühen Dreißigern … befassen sich nicht mehr damit, ein verderbliches System zu unterwandern, sondern wollen ihr eigenes Leben führen – am Rande der Gesellschaft. So ist es nur natürlich, dass Orte wie Big Sur eine besondere Anziehungskraft auf sie ausüben. Sie alle sind auf den unterschiedlichsten Wegen hierher gekommen, jeder aus einem persönlichen Grund, und jeder unterscheidet sich vom anderen wie eine Murmel von einem Würfel. Und alle sind sie ›Originale‹. Alle auf eine Art ›besonders‹, wenn man sie mit dem Durchschnitt vergleicht. Aus meiner Sicht sind es engagierte Leute, die guten Willens und sehr integer sind. Sie haben die Verhältnisse satt und sind angetreten, sich von Zwängen zu befreien und ihr eigenes Leben zu leben. Niemand von ihnen verlangt irgendetwas Phantastisches vom Leben außer dem Recht, nach der eigenen Fasson zu leben. Keiner gehört einer Partei, einer Doktrin, einem Kult oder einem Ismus an, doch wissen sie alle sehr genau, wie in diesen finsteren Zeiten eine andere Art von Leben möglich ist. Sie führen keine Kreuzzüge für ihre Ideen, setzen aber alles daran, sie umzusetzen. Über allem steht dabei – menschliche Würde. Manchmal ist das nicht so leicht, vor allem, wenn es um ›Details‹ geht, aber in echten Notsituationen funktioniert es immer. Nur wenn sie sich unterordnen sollen, stößt man in der Regel auf taube Ohren.«
Es sind Expats, Leute, die aus allen Ecken der Welt kommen, um das gute Leben zu wagen. Es gibt aber noch andere, die auch dazugehören. Viehzüchter, deren Familien seit Generationen hier leben. Oder ausgemachte Bastarde, die alleine leben, weil man sie nirgendwo sonst haben will. Einige sind klassische Eigenbrötler, die hier gelandet sind, weil sich niemand um sie schert, solange sie nur ihr eigenes Ding machen. Und dann wären da noch Menschen, denen jedes Unrechtsbewusstsein abgeht, die keinerlei guten Willen haben, nichts hinbekommen, und bei denen man sich fragt, wozu sie überhaupt gut sind.
Auf gewisse Weise verbindet Big Sur mehr mit New York und Paris als mit Monterey und San Francisco. Für die Schriftsteller und Fotografen, die in Big Sur ein paar Monate im Jahr verbringen, ist New York der Mittelpunkt der Welt – da sind die Verleger, da werden die entscheidenden Aufträge erteilt und die Schecks ausgestellt. Sind die Schecks erst einmal eingelöst, geht es weiter nach Paris. Denn das Motto heißt: In Bewegung bleiben, bis das Geld aufgebraucht ist – und dann wieder zurück nach Big Sur. In ihrem Denken ist San Francisco eine Bar, Monterey ein Lebensmittelgeschäft, und L.A. ein großer Zirkus, einige hundert Kilometer die Straße runter.
Andere, vor allem Maler und Bildhauer, orientieren sich eher Richtung Norden nach Carmel, wo es zahlreiche Kunstgalerien, Werkstätten und Touristen mit dicker Brieftasche gibt.
Zu den Besuchern in Big Sur – zu denen, die wirklich eingeladen sind – zählen mehr die Künstler, die Journalisten aus dem Ausland oder die Weltreisenden als die gewöhnlichen Urlauber. Hotels gibt es keine, die Motels sind klein und bieten keine Abwechslungen, und wenn es hier ein Nachtleben gibt, dann nur um das Nepenthe herum – das fünf Mal im Jahr geschlossen ist. Die meisten der Bewohner sind auf ihre Privatsphäre geradezu versessen, und es gibt nichts, was ihnen mehr auf die Nerven ginge als neugierige Eindringlinge. Jemand, der mit einer Dose Bier auf einem Felsen sitzt, sich den Sonnenuntergang ansieht oder Wale betrachtet, die gerade aufs Meer hinaus ziehen, ist normalerweise nicht sehr erfreut, wenn er sein Lebensgefühl einem Geschäftsmann erklären soll, der auf Reisen ist und mal eben angehalten hat, »um mit einem der Einheimischen zu reden«.
Jerry Gorslin hat die ersten achtzehn Jahre seines Lebens in New York zugebracht. Jetzt lebt er in einer verlassenen Bergbaumutung, vierzig Kilometer südlich von Hot Springs, und er ist mehr als glücklich, keine Gäste zu haben. Ein, zweimal die Woche fährt er die Küste hoch, um sich Bücher auszuleihen, legt einen Arbeitstag ein, um einem Typen zu helfen, der sein Haus ausbaut, oder er verbringt ein paar bierselige Stunden im heißen Schwefelbad. Das meiste, was er zum Leben benötigt, baut er selbst an, er stellt seinen eigenen Wein her, kocht auf einem Holzofen und hält Kontakt zu seinen Freunden in Europa, wo er zwei Jahre lang vor Big Sur lebte.
Lionel Olay, ein Schriftsteller, lebt mit einer jungen Frau und zwei Hunden versteckt auf den Hügeln. Jeden Monat verbringt er ein paar Tage in Hollywood, um Aufträge zu ergattern, zum Schreiben aber zieht er sich nach Big Sur zurück. Wenn Geld eintrifft, setzt er sich blitzschnell in Bewegung – Mexiko, Kuba, Spanien, dann wieder Big Sur.
Jemand wie King Hutchinson ist hier seit drei Jahren und hat nicht vor wegzugehen. Er gehört zu der Vielzahl derer, die nach der »Sieben-zu-fünf-Regel« leben: sieben Monate arbeiten im Nepenthe, fünf Monate Arbeitslosenversicherung.
Don Bloom ist Künstler. Er kann von dem, was er verdient, gerade so leben und zahlt 25 Dollar im Monat für eines der schönsten Häuser an der Küste. Er kommt auch ohne Elektrizität gut zurecht, hat einen der wundervollsten Gärten in ganz Big Sur und verbringt einen Gutteil des Tages auf seiner Veranda – und schaut aufs Meer.
Alltag in Big Sur funktioniert so: auf Post warten, die Seelöwen in der Brandung beobachten, in den Wannen von Hot Springs sitzen, dann und wann den ein oder anderen Drink – und die meiste Zeit an dem Projekt arbeiten, das der Grund war, überhaupt herzukommen: Malerei, Schreiben, Gartenarbeit oder einfach die Kunst, sein eigenes Leben zu leben.
Was – und wen – man hier findet, hängt vor allem davon ab, wo man sich bewegt. Partington Ridge zum Beispiel ist die Antwort von Big Sur auf die Park Avenue. Nicholas Roosevelt wohnt dort; ebenso Sam Hopkins vom Top-O’-the-Mark-Clan (Hopkins Hotel). Die Berühmtheiten – Dylan Thomas bis Arthur Krock und Clare Boothe – quartieren sich standesgemäß in Partington ein, und wenn sie sich an den Tisch zum Essen setzen, serviert man ihnen vermutlich alles, nur keine wild wachsenden Senfkörner.
Etwas weiter unten an der Küste befinden sich die Besitztümer von Murphy, dazu gehört auch Hot Springs; die Gesamtmiete für neun Wohnungen kostet hier 176 Dollar im Monat. Es ist die reinste Wanderausstellung, in der man alles finden kann, von purer Gewalt bis zu Touch Football . Die Scheune ist für fünfzehn Dollar im Monat zu haben, das Bauernhaus für vierzig, und eine Hütte im Canyon bekommt man für fünf Dollar. Hier wohnt Emil White, und wenn man ihn einen Verleger nennen möchte, dann würde die Liste der Mieter ungefähr so aussehen: ein Fotograf, ein Barmann, ein Schreiner, ein Verleger, ein Schriftsteller, ein Abtrünniger, ein Metallbildhauer, ein Zen-Buddhist, ein Anwalt und drei Leute, die sich weder sexuell noch sozial oder sonst wie zuordnen lassen. Es gibt auf dem Grundstück nur zwei reguläre Ehefrauen; bei allen anderen handelt es sich um Geliebte, »Gefährtinnen« oder hoffnungslose Verliererinnen. Bis zuletzt war Dennis Murphy, der Romancier, der Lichtblick der Community; es ist seine Großmutter, der der ganze Kram gehört. Als sein Buch The Sergeant ein Bestseller wurde, waren Tag und Nacht Leute hinter ihm her, die Hunderte von Kilometern unterwegs gewesen waren, um auf ihn einzureden und ihm seinen Schnaps wegzutrinken. Nachdem das ein paar Monate so gegangen war, zog er nach Monterey.
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