Die Ironie der Geschichte ist, dass Miller eigentlich herkam, um sich zurückzuziehen und in Einsamkeit zu leben. Als er sich 1946 hier niederließ, war er noch kaum bekannt. Seine wichtigsten Bücher ( Im Wendezeichen des Krebses & des Steinbocks, Sexus, Plexus, Nexus, Der Schwarze Frühling etc.) kamen hier in den Staaten auf den Index (bis heute). In Europa, wo er seit den frühen Dreißigern lebte, genoss er einen Ruf als einer der wenigen unbestechlichen und kompromisslosen amerikanischen Autoren. Nachdem die Nazis Paris überrollt hatten, wurde sein Konto gesperrt, und er sah sich gezwungen, zurück in die Vereinigten Staaten zu gehen.
Seine Verachtung für dieses Land zeigte sich in allem, was er schrieb, und seine Vision von der Zukunft Amerikas war bestenfalls eine zweischneidige Angelegenheit. In Die Welt des Sexus , einem verbotenen und kaum bekannten Buch von 1940, formuliert er es so:
»Wenn die Welt der Neutren kollabiert – und diese stellt den größten Teil der Bevölkerung –, wird folgendes passieren: Sie werden den Sexus entdecken. In der Periode der Dunkelheit, die darauf folgt, werden sie sich aufreihen wie Schlangen oder Kröten und sich in einem endlosen unzüchtigen Karneval gegenseitig anknabbern und bekauen. Sie werden sich, mit Hammer und Zange, in der Erde vergraben. Und werden alles ficken, was in Reichweite ist, ein Schlüsselloch genauso wie einen ekligen Leichnam. Alles auf diesem Kontinent ist möglich. Er war schon in den allersten Tagen der Schauplatz von grausamsten Praktiken, von Blutvergießen und schrecklicher Folter, von Sklaverei, Brudermord und sakralen Orgien, von Stoizismus, Hexerei und Lynchmorden, von Plünderungen und Brandschatzungen, von Habgier, Vorurteilen, Bigotterie und so weiter … All dies mussten wir schon mitansehen, bis auf den Ausbruch der Sexualität, der der letzte Ausbruch sein wird – gleich einer Flut, die jeden Automaten fortspült. Amerika, diese gewaltige und komplizierte Maschine, wird zugrunde gehen. Ein Polarlicht wird diese einsame dunkle lange Nacht ankündigen. Und auch wenn es heißt, es werde sich eines Tages ein besserer Menschentypus entwickeln – schon möglich. Doch wenn das passiert, wird es von Grund auf sein. Mag der gegenwärtige Bestand einen wundervollen Dünger ergeben, der neue Mensch wird daraus nicht hervorgehen.«
Dies sind die Worte, die nachhallten, als er nach Big Sur zog, und sie verfolgten ihn regelrecht. Kaum hatte er sich hier angesiedelt, um aus einem »Alptraum mit Air-Condition« auszusteigen, wie er es nannte, waren unzählige Leute hinter ihm her und wollten ihm die Hand schütteln, ihn um Rat fragen und bedrängten ihn mit ihren eigenen Visionen und Mutmaßungen. Tag für Tag, Jahr für Jahr kämpften sie sich die steile staubige Straße zu seinem Haus in Partington Ridge hoch, wo Miller doch nur seine Ruhe haben wollte; denn wenn da oben ein freizügiger Karneval am Laufen war, wollten sie verdammt noch mal ein bisschen mitmischen. Beizeiten konnte man meinen, dass halb Greenwich Village auf seinem Rasen kampierte. Junge Ladies, mit nichts als einem Regenmantel bekleidet, zogen mitten in der Nacht vor seiner Haustür ihre Show ab, wilde Türken kamen per Anhalter aus New York und hatten alles, was sie besaßen, in ihren Reisetaschen dabei, Drifter aus allen Ecken des Landes schlugen hier auf, mit Säcken voller Essen und Whiskey, und sogar von Paris aus hatten es mittellose Franzosen bis hierher geschafft.
Miller ließ nichts unversucht, um sich dem Ansturm zu widersetzen, aber es half alles nichts. Mit seinem Ruhm wuchs auch die Zahl der Besucher beständig an, von denen viele nicht einmal seine Bücher kannten. Literatur interessierte sie nicht, sie wollten Orgien. Umso geschockter waren sie, als sie auf einen ruhigen, akkuraten, auf Moral bedachten Mann trafen – und nicht auf das Partysexmonster, von dem man sich die ganzen Geschichten erzählte. Die Orgien blieben aus, und die enttäuschten Groupies zogen weiter nach Los Angeles oder San Francisco. Oder aber sie blieben in Big Sur und versuchten, ihre eigenen Orgien aufzuziehen. Manche lebten in hohlen Bäumen, manche stießen auf verlassene Hütten, und einige streiften mit ihren Schlafsäcken einfach auf den Hügeln umher und lebten von Nüssen, Beeren und wild wachsenden Senfkörnern. Diejenigen, die nicht blieben, streuten auf ihren weiteren Wegen ihre Geschichten; sie wurden jedes Mal, wenn sie jemand weitererzählte, umso ausschweifender. Und so kamen immer noch mehr Leute, was Miller bis an den Rand der Verzweiflung brachte. Er stellte ein unübersehbares und unmissverständliches Warnschild oben an seiner Zufahrt auf, kultivierte ein bewusst unhöfliches Auftreten, um Besucher abzuschrecken, und versuchte mit allen möglichen Tricks, die Lage seines Wohnortes zu verschleiern. Vergebens. Am Ende überrannten sie ihn, und Big Sur war spätestens von da an auf der Karte der nationalen Sehenswürdigkeiten verzeichnet. Heute kommen sie noch immer, obwohl Miller längst seine Sachen gepackt hat und nach Europa geflohen ist; gut möglich, dass es für ihn Ferien auf Lebenszeit sind.
Eine besondere Ironie liegt darin, das Miller mehr über Big Sur geschrieben und es mehr gepriesen hat als jeder andere Schriftsteller. 1946 verfasste er einen Essay mit dem Titel Das ist meine Antwort , der schließlich in seinem 1958 publizierten Buch Big Sur und die Orangen des Hieronymus Bosch erschien – lange nach der ersten Invasion.
»Frieden und Einsamkeit. Ich habe einen Vorgeschmack davon bekommen, sogar hier in Amerika. Wenn ich morgens auf Partington Ridge aufstand, zur Tür der Hütte ging, um sie zu öffnen, schaute ich auf die samtigen, dahinrollenden Berge, und ich war so von Zufriedenheit und Dankbarkeit ergriffen, dass sich instinktiv meine segnende Hand hob … So möchte ich den Tag beginnen … Und das ist der Grund, warum ich mich in Big Sur niedergelassen habe. Jeder Tag sollte genau so beginnen … Hier herrschen Frieden und Gelassenheit, ein Leben mit ein paar guten Nachbarn, und sonst nur wilde Tiere, edle Bäume, Bussarde, Adler; das Meer, der Himmel, die Hügel, endlose Berge …«
Doch es kam der Tag, an dem Miller aus seiner Tür herausschaute und nicht mehr nur Bäume, wilde Tiere und eine Handvoll freundlicher Nachbarn vor sich sah. An manchem Morgen würde er auf die Lobgesänge auf den Ort verzichten und stattdessen der in seinem Garten versammelten Horde von Unverbesserlichen mit der Faust drohen. Sein Fall aber war speziell; er war ein Mann, den jeder kannte. Doch auch der Rest von Big Sur leistete erbitterten Widerstand, und obwohl die Schlacht von Anfang an verloren war, kam die Dampfwalze, die man Fortschritt nennt, nur langsam voran und steckte stellenweise komplett fest.
Es gibt hier Leute, die nicht die leiseste Ahnung haben, was sonst in der Welt vor sich geht. Sie haben seit Jahren keine Zeitung mehr gelesen, hören kein Radio und bekommen vielleicht einmal im Monat, wenn sie in die Stadt fahren, ein Fernsehgerät zu Gesicht.
Es kann ein traumatisches Erlebnis sein, in Big Sur die New York Times zu lesen. Wenn man hier schon ein paar Monate verbracht hat, kommt es einem zunehmend schwierig vor, die Masse an einschüchternden und komplexen Informationen noch irgendwie ernst zu nehmen. Es genügt, auf einer Klippe zu sitzen, hoch über dem felsigen Strand, am Rande des leeren weiten Ozeans, und hinter sich die geschichteten Hügel zu spüren, an denen wie an einer großen Wand das Durcheinander von Krieg und Politik abprallt, und schon erscheint einem die Welt der New York Times so unwirklich und fremd, so vollständig gegen die Stille und die Schönheit dieser Küste gerichtet, dass man sich manchmal nur noch wundert, wie die Menschen, die diese andere Welt bewohnen, bei Verstand bleiben. Was natürlich auch nicht allen gelingt. Täglich sieht man Menschen, die den Halt verlieren. Tausende sind überdreht, weil sie zu viel Zeitung lesen, und mit unzähligen anderen ist es bergab gegangen, ohne dass es einen erkennbaren Grund gegeben hätte.
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