Es war ein schöner Tag für Voltaire, als er seiner eigenen Apotheose beiwohnte und von den Schauspielern der Comedie francaise, in Gegenwart eines zahllosen Publikums, das die Hallen des Hauses durch seinen Beifallssturm erschütterte, gekrönt wurde. Niemals ward der Eigenliebe eines Mannes eine so köstliche Huldigung; niemals zahlte ein schönerer Lohn mit größerem Wucher die Last eines ganzen Lebens. Was war jetzt für ihn das Andenken an Friedrichs Liebkosungen, an Katharinens Schmeicheleien? Welcher Fürst kann je eine Ehre erzeigen, die der vom Volke zuerkannten gleicht? Ich werde diesen herrlichen Auftritt nicht beschreiben; so viele andere haben es bereits getan, die so wie ich zugegen waren und die, von den äußern Gegenständen mehr eingenommen, die Einzelheiten besser behalten haben. In mir hatte dieses Schauspiel alle Kräfte meiner Seele erweckt, und das Nachdenken, welches mich abzog, ließ für mich von allem, was mich umgab, nichts übrig, als ein dumpfes Geräusch, welches vor meinen Ohren erstarb, einen Lichtglanz, der mich die Augen schließen ließ. Wie!, sagte ich, das sind also die Kronen, welche das Volk erteilt? Das Volk! Und wo ist es denn in dieser Versammlung? Diese von Diamanten, Jugend und Schönheit strahlenden Frauen, diese jungen, mit goldenen Ketten beladenen Männer, dieses ausgewählte, aufgeklärte, geist- und kenntnisreiche, talentvolle Publikum soll das Volk sein? Ist das nicht ein aus einer ungeheuren Ernte zufällig ausgelesener Haufen Körner? Ist es nicht die ganze Aristokratie? Die Aristokratie des Namens, des Vermögens, der Bildung? Ja. So ist es; für diese bevorrechtigten Geschöpfe allein, für diesen kleinen Bruchteil der großen Gesellschaft hat also Voltaire seine Meisterstücke geschaffen! Und welche Triumphe weiht man ihm? Wie berauscht man ihn mit Ruhm?
Doch man muß gerecht sein: Voltaires Schriften haben, vielleicht ohne sein Wissen, ungemein zur Mündigsprechung des Volkes beigetragen. Er wendete sich nicht an das Volk, weil es noch nicht reif war, ihn zu verstehen; aber er hatte in den höheren Sphären die Umwälzung begonnen, die später in die tieferen hinabgestiegen ist; er mußte sich den unveränderlichen Naturgesetzen unterwerfen und sein Publikum so hinnehmen, wie es ihm die früheren Jahrhunderte hinterlassen haben. Man muß seine Täuschungen, seine Verirrungen, seine unselige Leichtfertigkeit verzeihen, er war ein Werkzeug der Vorsehung und hat die Vollziehung ihrer Beschlüsse vorbereitet.
Im Jahre 1778 hatten meine Ideen noch nicht durch die Zeit, durch die Betrachtungen meines Studiums jene weisen Verbesserungen erfahren. Ich hatte, anfangs mit der Glut eines jungen, lernbegierigen Kopfs, später mit dem Widerwillen eines Gemütes, das des Glaubens bedarf, die Werke Voltaires gelesen. Seine entsetzliche Zweifelsucht, seine Wut, mit allem sein Spiel zu treiben, nichts mit seinem Witze zu verschonen, seine niedrige Anbetung der Fürsten, sein hochmütiger Ton, die Unsittlichkeit einiger seiner Produkte hatten mich empört und verblendeten mich für alles Erhabene und dem Volke Nützliche, das seine Schriften enthielten. Was ich ihm jedoch am wenigsten verzieh, und was mir heute noch der unauslöschlichste Flecken in seinem Andenken erscheint, war sein eifersüchtiger Haß gegen Rousseau, die niedrigen Angriffe, mit denen er diesen großen Mann verfolgt hat.
Der Verfasser des „Gesellschaftsvertrages“ war damals, wie jetzt, der Gegenstand meiner ganzen Bewunderung. Ich hatte beim Lesen jene Übereinstimmung der Gefühle und Gedanken empfunden, vermöge der man vertrauensvoll jede Handlung hinnimmt, die sich noch sehr zu einer Prüfung eignet. Ich bewunderte sein Genie und liebte seinen Charakter. Ihm danke ich die ersten festen Begriffe, die in mir Eingang fanden. Trotz der Mühe meiner Erzieher verließ ich das Kollegium als schlechter Katholik, und mit geringer Neigung, sogar nur an eine Offenbarung zu glauben. Rousseau bekehrte mich nicht; aber wenn die verwirrten Stimmen des Gewissens nicht laut genug sprachen, um für sich meiner Vernunft das Dasein eines höchsten Geistes zu beweisen, so kräftigte doch das mächtige, religiöse Wort dieses großen Schriftstellers diese früheren Spuren, und ich verdanke ihm meinen festen Glauben an eine belohnende Vorsicht, einen Glauben, der mich in einer mit Prüfungen erfüllten Laufbahn erhalten und getröstet hat, durch den ich dem Widerwillen wie den Gefahren getrotzt, den Verführungen widerstanden habe, die mich von dem Wege ablenken konnten, den mein Gewissen mir vorgezeichnet hatte.
Wenn ich die Vorliebe der Pariser für Voltaire nicht teilte, so überstieg dafür die Bewunderung, die ich für den Einsiedler von Ermenonville 16) gefaßt hatte, die seiner eifrigsten Anhänger. Das Verlangen, den berühmten Mann zu sehen, hatte sich meiner bemächtigt und ging bald in eine förmliche Leidenschaft über. Durch meinen Enthusiasmus ermutigt, beschloß ich, mich nach seiner Einsiedelei zu begeben, auf den Fall hin, nur seine Stimme zu hören, nur seine geliebten Züge zu sehen. Ich teilte niemandem mein Vorhaben mit, man hätte es närrisch genannt, und reiste an einem schönen Junimorgen allein nach Ermenonville. Ich machte den Weg zu Fuß; die Betrachtungen, die mich beschäftigt hatten, ließen mich ihn nicht lang finden; überdies kommt man, wenn man, 19 Jahre alt, von einer Idee beherrscht ist, eine offene Straße vor sich, seine Zukunft im Kopfe hat, immer schnell an sein Ziel. Ein Jüngling meines Alters hätte, um in die Augen einer Frau zu sehen, denselben Weg gemacht, den ich einschlug, einen Philosophen zu sehen.
Das Herz schlug mir bei meiner Ankunft; je näher man dem gewünschten Gegenstande ist, je furchtsamer wird man. Aber jetzt konnte ich nicht mehr umkehren, und ich wäre vor Ärger gestorben, wenn ich aus einer unwürdigen Schwäche mich selbst des Glückes beraubt hätte, das ich aufgesucht hatte. Ich trat in den schönen Park von Ermenonville ein und irrte einige Zeit umher, ohne daß mir etwas aufstieß. Jemand vom Schlosse, dem ich begegnete, fragte mich, wen ich suche; ich stammelte den Namen J. J. Rousseau. Der Mann lächelte, indem er mich musterte: „Ich zweifle“, sagte er, „daß es Ihnen gelingen wird, Herrn Rousseau zu sehen, er liebt die Besuche nicht und würde Ihnen seine Tür verschließen, indessen, wenn es Ihnen nicht darauf ankommt, einige Stunden zu opfern, so wenden Sie sich dort nach dem kleinen Hügel, den Sie rechts von den Pappeln bemerken: dort ist die Einsiedlei; Herr Rousseau begibt sich täglich dahin, um zu botanisieren; vielleicht begegnen Sie ihm“
Ich wendete mich um so schneller nach jener Seite, da mir die Schamröte in das Gesicht stieg und ich das freche Gelächter der Bedienten zu vernehmen glaubte, die über den unbärtigen Schüler des Philosophen spotteten. Ich wartete lange in der Gegend der Einsiedlei, bald auf einem künstlichen Felsblock sitzend, bald mit kurzen Schritten auf- und abgehend und wieder stillstehend, um besser nachzudenken. Endlich sah ich am Füße des Hügels einen Mann erscheinen, der, das Auge zur Erde gerichtet, eine große Krauterkapsel unter dem Arme, jeden Augenblick stehenblieb, rasch eine Blume, eine Pflanze pflückte und sie sorgfältig aufbewahrte. Ich hätte ihm entgegen gehen sollen, aber eine heilige Ehrfurcht ergriff mich, ich blieb auf meiner Stelle. Indessen näherte er sich mir, von seinen Gegenständen so eingenommen, daß er bald nur wenige Schritte noch von mir entfernt war. Ich konnte ihn, da er mich durchaus nicht bemerkte, nunmehr ruhig betrachten: er war von mittlerer Größe, seine Augen lebhaft und melancholisch; seine Stirn bezeichnete zugleich Nachdenken und Leiden, sein Gang verkündete deutlich den von einem Übel und von dem Bewußtsein des Übels mitgenommenen Mann. Ein Blitz der Freude erhellte für Augenblicke sein Gesicht; es geschah, wenn er einen neuen Schatz für seine Kräutersammlung entdeckte.
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