Meine Zeit teilte sich in diese Studien und meine juristischen Arbeiten ein. Mit Eifer ergab ich mich dieser trocknen Wissenschaft; ich wollte mein Leben vor Not und fremder Unterstützung sichern. Dieser Grund hätte hingereicht, meinen Mut aufrechtzuerhalten, aber ich hatte einen noch wichtigeren: das Krachen unserer alten Regierungsmaschine kündigte eine nahe Auflösung an; schon sprach man unter gebildeteren Leuten das Wort: Generalstaaten aus. Ich hatte es zuerst von Gerbier gehört, als dieser sich eines Tages mit Ferrieré in dem Kabinett dieses letztern unterhielt; plötzlich flammte in meinem Geiste eine Idee auf. Der feste Wille, an diesen großen Volksversammlungen teilzunehmen, bemächtigte sich meiner; um dahin zu gelangen, mußte ich mich unter meinen Mitbürgern bemerklich machen: in einem Lande, das der Pressefreiheit beraubt ist, blieb aber nur ein Rednerstuhl — die Schranken des Gerichtshofes. Ich begriff sogleich, daß man von dem Augenblicke an, wo die Nation mit denen, die am Ruder saßen, Abrechnung halten werde, alles durch eine neue Gesetzgebung umgestalten würde; um aber würdig bei diesem großen Werke mitwirken zu können, war es nötig, mit vollendeten Studien, mit zuverlässiger Kenntnis der Lage der Dinge, die man umstoßen mußte, in die Versammlung zu treten. In der Laufbahn aber, der ich mich gewidmet hatte, mußte ich das Mittel finden, den höchsten Beweis von Zutrauen zu erhalten, der einem Bürger nur erteilt werden kann, und das Mittel, mich auch dessen würdig zu machen. Man glaube nicht, daß ich auf diese Schlüsse erst hinterher gekommen bin. Man fasse eine bessere Meinung: mein ganzes Leben bezeugt meine Voraussicht; erstaune wer will: Robespierre konnte in seinem achtzehnten Jahre erraten, wovon sich der alte Maurepas 14) nichts träumen ließ.
Von meinen vielen Beschäftigungen eingenommen, hatte ich weder Zeit noch Lust, meine Jugend durch Zerstreuungen und Vergnügungen zu zersplittern, wie sie das Leben in Paris den jungen Leuten bietet. Die mäßige Unterstützung die ich von meiner Familie erhielt, genügte meinen eingeschränkten Wünschen; mein Stäbchen im fünften Stock der Straße St. Jaques verließ ich nur, wenn ich zu Ferrieré ging, dem ich empfohlen war, oder wenn ich der Sitzung des Gerichts beiwohnte. Einmal wöchentlich nahm ich an den Verhandlungen teil, welche zu dieser Zeit der Abbé Rattier, geistlicher Rat im Parlament, eingeführt hatte. Mit derselben Sorge, womit andere danach streben, vermied ich jedes nähere Verhältnis mit Frauen. Die Verführungen, welche Gattinnen von ihrer Pflicht abziehen, habe ich immer für verbrecherisch, eines rechtlichen Mannes unwürdig gehalten; weniger streng urteile ich über Verhältnisse, die sich zwischen Personen, welche frei von allen Verbindlichkeiten sind, anknüpfen; aber kaum aus dem Kollegium geschlüpft, ohne Vermögen, ohne wirkliches Auskommen, hätte ich keine Frau an mein Schicksal fesseln mögen. Von den jungen Leuten meines Alters sah ich nur wenige, und diese selten; bis zur Zeit, wo Camille das Kollegium verließ, schloß ich mich an keinen meiner Kameraden an.
Ich war häufig in den Gerichtssälen und suchte dort Vorbilder, die ich einst vor Augen haben wollte, wenn auch mir sich die Schranken öffnen würden. Ferriére war ein vortrefflicher Jurist, von geradem Verstand und gelehrt; aber er hatte sich, wie sein Oheim beratenden Andenkens, auf seine Stubenarbeit beschränkt und nie öffentlich vor Gericht gesprochen. Zwei Männer machten sich damals in Paris den ersten Rang als Sachwalter streitig; ich spreche von Gerbier und Linguet. Beide haben Aufsehen gemacht, und wenn ich nicht irre, in umgekehrtem Verhältnisse zu ihren Verdiensten; der unruhige, streitsüchtige, aufhetzerische Linguet, dessen groben Verstoß gegen die Volksvertreter wir später gesehen haben, hat abwechselnd bald boshafte Pamphlets, bald gerichtliche Verteidigungen geliefert, die eines Pamphletschreibers würdig waren. Dieser Mensch hat nie etwas mit der Würde und der Haltung, die der Toga ziemt, weder tun noch reden können; und hat es dahin gebracht, daß er, von seinen Kollegen mehr noch verabscheut als gefürchtet, von der Liste ausgestrichen wurde. Als ich ihn zuerst sah, war er in offenem Kriege mit Gerbier und schob ihm die ärgsten Plackereien zu. Das Parlament, das bis jetzt Gerbier geliebt und bewundert hatte, war gerade gegen ihn gestimmt und bot dem eifersüchtigen Hasse Linguets die Hand. Der Grund dieser Veränderung war schon einige Jahre alt: als der Kanzler Maupeou das Parlament verbannt hatte, ernannte er eine Kommission, die Gerichtspflege zu verwalten; der größte Teil der Advokaten weigerte sich, vor diesem aus dem Stegreif eingerichteten Hofe zu plädieren; aber Gerbier, der vom Kanzler gewonnen war und ohne Zweifel glaubte, daß sein würdiger Stand ihm jederzeit die Pflicht auflege, mit seinem schönen Talente Mitbürgern beizustehen, führte seine Prozesse vor diesen eingedrungenen Richtern und zog sich dadurch die Feindschaft der alten Parlamentsglieder zu. Gerbier war ein wahrhaft bewunderungswürdiger Mann! Niemals hat die Macht der Rede so gewaltig auf mich gewirkt! Er starb für seinen, für Frankreichs Ruhm einige Jahre zu früh. Unsere beratende Beredsamkeit hätte einen Meister mehr gehabt. Es war nicht dieser heftige, plötzliche Schwung, den wir bei Mirabeau 15) bewunderten; es war mehr der Attizismus, die Feinheit des gebildeten Vortrages, der Reichtum an Bildern und Abwechslung, wie er sich in den unvorbereiteten Reden des jungen Advokaten von Bordeaux Vergniaud widerspiegelt; aber es war außerdem noch eine würdevolle, eindringliche Sprache, eine edle, sich mitteilende Wärme in seiner Darstellung und ein Gebärdenspiel, wie es nie ein Redner besessen hat. Hätte ich jemals wünschen können, etwas anderes zu sein als ich selbst, so war Gerbier der Mann, dem ich am liebsten gleichen mochte: er war rechtlich, uneigennützig, voller Ehrgefühl; die Eigenschaften des Herzens vereinigten sich in ihm mit allen Gaben der Natur. Linguet ist weit entfernt, dies Lob zu verdienen, und wenn man dem Genius im Gefolge der Tugend Altäre errichten muß, so soll man das Talent, das Genie selbst mit heilsamem Tadel strafen, wenn es nicht in der Tugend wurzelt.
Diese juristischen Kapazitäten, denen der künftige Advokat hohe Wichtigkeit beimaß, waren beim Publikum weniger angesehen. Hier wandten sich aller Blicke auf zwei Männer, die den größten Glanz auf die Wissenschaften geworfen, ihren Namen an das Jahrhundert geknüpft haben. Voltaire und Rousseau waren damals ihrem Ende nah; der Neid und der Haß, der sie im Leben verfolgt hatte, verschonte auch ihre letzten Stunden nicht. Aber ein allgemeiner Ruf des Lobes und der Bewunderung erstickten das unziemliche Geschrei ihrer Feinde. Es war ihnen vergönnt, noch lebend ihres Ruhmes zu genießen: der eine in der Zurückgezogenheit, im Frieden des Landlebens; der andere im Geräusch, in Festen, unter Akademikern, großen Herrn, Schauspielern und Hofdamen. Beide genossen, mit einem Fuße fast schon im Grabe, zum letzten Male noch die Freuden, die sie während ihrer ruhmvollen Laufbahn am meisten berauscht hatten. Der Eigenliebe Voltaires blieb nichts mehr zu wünschen, Rousseaus Seele war befriedigt. Beide schienen sich nach einem wechselreichen, irrenden Leben, das sich durch Achtungen und Triumphe, durch mächtigen Haß und erhabene Freundschaften auszeichnet, verabredet zu haben, den letzten Atemzug an dem Orte auszuhauchen, der die Fackel ihrer Unsterblichkeit entzündet hatte.
Ganz Paris beschäftigte sich mit diesen beiden berühmten Männern; besonders war Voltaire der Gegenstand der staunenden Bewunderung der Bürger geworden. Seit 27 Jahren durch ein Gutdünken des Königs aus der Hauptstadt verbannt, kam er nicht wie ein großer Mann zurück, gegen den man sein Unrecht wieder gutmacht, sondern bloß geduldet, wie ein Schuldiger, zu dessen Gegenwart man ein Auge zudrückt. Der Hof sah in ihm nur den achtzigjährigen Greis, dessen Kräfte zu erlöschen begannen, und darum schien sein Aufenthalt nicht gefährlich mehr: als ob die Menge eines neuen Trauerspiels, wie Mahomet, nötig gehabt hatte, um den Fanatismus zu hassen, eines neuen Versuches über die Sitten, um die von der Macht geheiligten Mißbräuche zu bemerken. Voltaire brauchte sich nur zu zeigen, um elektrisierend auf die Masse zu wirken; sein Name war ein Banner, um welches sich freiwillig die Anhänger der neuen Philosophie scharten. Atheisten, Deisten, Protestanten, politische Neuerer und Verbesserer der Staatswirtschaft, alles, was sich regte, alles, was dem freigewordenen Denken einen Schwung gab, erkannte in ihm den Führer; denn bei der unversiegbaren Fruchtbarkeit seiner Feder, bei der Mannigfaltigkeit seiner Kenntnisse, der Biegsamkeit seines Geistes dürfte schwerlich ein Streitsatz zu prüfen sein, der nicht in dem Arsenal seiner Werke mehr oder minder gestählte Waffen fände.
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