»Das, was du gleich sehen wirst, Kleines, ist meine Heimat. Hier bin ich geboren und aufgewachsen, hier sind meine Wurzeln. Und auch du als meine Frau gehörst jetzt hierher, genauso wie die Kinder, die du mir schenken wirst.«
Im nächsten Atemzug waren ihre Handgelenke mit Handschellen hinter ihrem Rücken gefesselt. Brenda zuckte kurz zusammen; sie fühlte seine Lippen an ihrem rechten Ohr, seinen Atem, als er leise und beschwörend flüsterte: »Du brauchst einfach nur geradeaus zu laufen, mo cridhe, gebrauch deinen Verstand und deine Phantasie, ich weiß, daß du es schaffen wirst!«
Sie spürte kaum mehr, daß die Augenbinde weggezogen wurde; das Sonnenlicht blendete sie, eine Autotür schlug zu, und die Limousine brauste davon.
Egal
wie weit
oder wie unüberwindbar
der Weg scheint,
man muß mit dem ersten Schritt
anfangen.
2
Er ließ sie hier stehen!
Einfach so!
Das gab’s doch gar nicht!!
Nachdem Brendas Augen sich an die unerwartete Lichtflut gewöhnt hatten, setzte für einen Moment ihr Herzschlag aus. Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Sie stand auf einer kiesbestreuten Auffahrt, hinter sich das Eisentor, das gerade mit dezentem Klicken zufiel. Er hatte sie einfach ausgesetzt. Dazu noch nackt und gefesselt!
Wo war sie hier bloß? Was war das für ein Anwesen? Wohin führte diese Auffahrt? Ach was, Auffahrt – das war eine gigantische Allee, an beiden Seiten von riesenhaften Bäumen eingegrenzt, irgendwo weiter vorne – sehr weit vorne – konnte Brenda das Mauerwerk eines Hauses durch die dichten Blätter schimmern sehen und die Rücklichter der Limousine, die jetzt abbog und aus ihrem Blickfeld verschwand. Hinter den beiden Baumreihen erstreckten sich gepflegte Rasenflächen, dahinter dann Felder, so weit das Auge reichte. Landmaschinen fuhren über diese Felder, zu weit weg, als daß man das Geräusch der Motoren hätte hören können, aber da erwachte Brenda endlich aus ihrer Starre und rannte aus einem Instinkt heraus zu dem nächsten Baum, versteckte sich.
Wütend ließ sie sich ins Gras sinken und stampfte mit dem Fuß auf. Verdammt, was sollte das? Wollte Jonathan sie vor aller Welt blamieren? Wie konnte er sie nur so erniedrigen? Eine leise Hoffnung keimte in ihr auf, daß er gleich zurückkommen würde und sie wieder ins Auto einsteigen dürfte. Das war doch wohl alles nur ein Scherz, oder?
Das Schild. Er hatte ihr ein Schild umgehängt, so ein weißes aus Blech, sie versuchte zu entziffern, was darauf stand, aber das war weder Deutsch noch Englisch. Na bravo.
Und wie hatte er sie eben genannt? Was bedeutete das alles hier? Brenda atmete langsam ein und aus und versuchte, sich zu beruhigen. Denk logisch, Mädchen, das kannst du doch . Gut, er hatte sie hier ausgesetzt, quasi mitten in der Wildnis, und dafür konnte es nur den einen Grund geben. Eine neue Variante ihres Spieles. Jonathan liebte es, sie zu erniedrigen, und sie liebte es, von ihm erniedrigt zu werden. Punkt. Also eine weitere Machtdemonstration seinerseits. So weit, so gut.
Klasse, das hast du schon mal gut erkannt, Mädchen , dachte Brenda mit Galgenhumor. Hilft dir aber auch nicht viel weiter . Ihr Mann war augenscheinlich in diesem Haus; folglich war es wohl ihre Aufgabe, auch dort hineinzugelangen. Es sei denn, sie zog es vor, hier unter den Bäumen zu nächtigen. Würde ganz schön kalt werden. Noch schien die Sonne, und auch der Boden verriet ihr, daß es seit Tagen nicht mehr geregnet haben konnte. Also erst einmal versuchen, näher ans Haus zu kommen. Und das bitte möglichst ohne von jemandem gesehen zu werden …
Was sollte bloß dieses Gerede von Heimat und Wurzeln? Jonathan hatte ihr noch nie von einer existierenden Familie erzählt. Lebte diese angebliche Familie etwa hier? Aber wäre diese nicht auch zu ihrer Hochzeit erschienen? Oder hätte zumindest das Verlangen gehabt, sie – als seine frisch angetraute Ehefrau – kennenzulernen? Und außerdem – er würde sie doch wohl nicht so dieser angeblichen Familie vorstellen? Quatsch – wie konnte sie nur so etwas denken? Nicht mal er würde sie so bloßstellen. Wahrscheinlich wollte er ihr nur mal wieder vor Augen führen, wie sehr sie doch insgeheim seine Spielchen genoß, und ihr den Spiegel der Erkenntnis vorhalten.
Brenda stand unbeholfen auf, atmete tief durch und sprintete dann hastig von Baum zu Baum. Sie war völlig außer Atem, als sie endlich am Ende der Allee angekommen war. Das Haus entpuppte sich, je näher sie ihm kam, als regelrechtes Schloß mit gewaltigen Ausmaßen. Die grauweißen Mauern glitzerten im Sonnenlicht, wie zwei Wächter thronten die beiden Ecktürme über all dem. Die Auffahrt teilte sich und führte rund um einen gewaltigen Springbrunnen; dahinter erstreckte sich die nach beiden Seiten unendlich lange Vorderfront des Bauwerks mit einer mehrstufigen Treppe in der Mitte, die zu einem Portal hochführte.
Brenda blickte sich suchend um. Kein Mensch zu sehen, und auch hinter den vielen Fenstern zeigte sich niemand, jedenfalls soweit sie es erkennen konnte. Und in diesem Moment meldete sich mal wieder der kleine, masochistische Teufel in ihr.
Los, komm, da mußt du jetzt durch, auch wenn du dir hier wie auf dem Präsentierteller vorkommst. Hast du von so etwas nicht immer schon geträumt?
Sie faßte allen Mut zusammen und lief flink um den Brunnen herum. Ausläufer der gewaltigen Wassermassen, die aus den Mündern der vier – Rücken an Rücken stehenden – Figuren strömten, benetzten ihren nackten Körper, und sie fröstelte. Schnell sprintete sie die Treppe hinauf und stand nun vor dem Eingang. Und jetzt? Wie sollte sie bloß den Türklopfer betätigen? Der mächtige Löwenkopf grinste sie breit und hämisch an, als wolle er sie in ihrer Nacktheit verhöhnen. Nicht mit mir, mein Freund! Brenda hob ziemlich unelegant ein Bein, schob ihren Fuß unter den dicken Eisenring, der dem Löwen aus der Nase hing, und ließ ihn gegen die Tür donnern. Dann versteckte sie sich schnell hinter einem der Blumenkübel, die an der Hauswand standen, und wartete. Nichts geschah. Na super! Vielleicht hatte es ja keiner gehört; kein Wunder bei diesem Riesenkasten. Sie versuchte es noch einmal. Nach dem vierten Versuch gab sie auf. Man würde sie hier nicht hereinlassen, so viel stand schon mal fest. Aber irgendwie mußte sie ins Haus gelangen; schließlich war ihr Mann da drin, und wenn sie seiner Denkweise richtig folgte, dann erwartete er von ihr, daß sie diese Aufgabe zu seiner Zufriedenheit lösen sollte.
Oh dieser verdammte Mistkerl! Sie so zu erniedrigen und herabzuwürdigen! Jetzt reichte es aber! Jetzt könnte er wirklich kommen und sie aus ihrer Lage erlösen. Das war schließlich genug Erniedrigung für einen Tag gewesen. Brenda spürte ihre Augen feucht werden und gab dem Blumenkübel vor lauter Wut einen Tritt, was aber nur zur Folge hatte, daß sie einen lauten Schrei ausstieß und ein beißender Schmerz durch sie hindurchfuhr. Der blöde Kübel hatte sich natürlich nicht einen Millimeter gerührt.
Nichts da, Brenda! Du wirst doch wohl jetzt nicht heulen! Reiß dich zusammen und gebrauch deinen Verstand! Zugegeben, ihre Phantasie war durch die letzten Ereignisse beflügelt worden, und sie malte sich detailreich aus, wie Jonathan sie für ihre erlittene Qual und die Bewältigung dieser Herausforderung belohnen würde. Er hatte sie schon seit Tagen nicht mehr gezüchtigt oder mit ihr geschlafen, geschweige denn sie befriedigt; er hatte sie aber durch viele Kleinigkeiten aufgegeilt und ihre Erregung angestachelt, so wie vorhin im Flugzeug. Und prompt stellte es sich wieder ein – das Verlangen, ihm zu gefallen. Ihn zufriedenzustellen, damit er stolz auf sie sein konnte. Verdammt – manchmal haßte sie sich dafür.
Wie spät mochte es wohl sein? Brenda schaute in den Himmel, gab es aber schnell wieder auf, am Stand der Sonne irgend etwas – und sei es auch nur die Uhrzeit – abzulesen. Darin war sie noch nie gut gewesen, selbst in den Sommercamps nicht, in denen sie während ihrer Schulzeit manchmal die Ferien verbracht hatte. Pfadfinderspiele waren ihr schon immer ein Greuel gewesen. Also Jonathan und sie waren um 11 Uhr in Hamburg gestartet, knapp zwei Stunden hatte der Flug gedauert, dann die Fahrt in der Limousine … Keine Ahnung, wie lange sie gefahren waren … Immerhin war es noch hell! Vielleicht war sie, Brenda, ja als Überraschungsgast zur Teatime eingeplant! Nun gut, wenn man sie hier vorne nicht ins Haus ließ, dann würde sie sich wohl oder übel einen anderen Eingang suchen müssen. Kritisch musterte sie die nackten Gestalten auf dem Springbrunnen.
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