1 ...8 9 10 12 13 14 ...20 Hedvig und Susanna standen auf dem hinteren Deck der Fähre. Es wehte ein kühler Wind, aber sie achteten nicht darauf, all das Neue war so groß und überwältigend. Sie hatten in ihren Briefen nicht übertrieben, die Verwandten, die vor ihnen hierhergefahren waren.
Carl hatte die Fähre den ganzen Tag über hin und her fahren sehen. Er hatte den Kai verlassen, Kaffee in einer Imbissstube getrunken, und er hatte überlegt, wie er seine Schwester am besten würde finden können. Wie sollte er sie in dem Gedränge erkennen, sie war ja so klein.
Da kam ihm eine gute Idee. Er ging in die Imbissstube zurück, erhielt gegen Bezahlung ein großes Stück weißer Pappe. Er fragte nach Malerfarbe, aber da es die nicht gab, begnügte er sich mit etwas Sojasauce, die er ebenfalls kaufen konnte. Na ja, zwanzig Cent, aber er stand ja nicht ganz ohne Geld da.
Carl malte mit dem Zeigefinger, den er in die Sojasauce tunkte. Er schrieb den Namen seiner Schwester mit großen Buchstaben. Aber er hatte den Platz schlecht berechnet, der letzte Buchstabe passte nicht mehr auf das Pappstück. Jetzt stand dort: HEDVI mit dunkelbraunen zerfließenden Buchstaben.
Carl wartete jetzt etwas oberhalb der Stelle, an der die Landungsbrücke der Fähre ausgefahren wurde. Er war auf eine längliche Mauer geklettert und konnte die Menschenmenge von oben sehen.
Die Fähre legte wieder an. Als Hedvig und Susanna an Land stiegen, wurden sie schnell von dem Menschenmeer verschluckt. Sie wurden nach vorne gestoßen, mitgezogen, konnten nicht selbst die Richtung bestimmen, in die sie gehen wollten.
Carl stand mit seinem Plakat da. Die Sojasauce tropfte ihm auf Stirn und Nase. Dort stand er braun bekleckert und groß auf der Mauer und hielt das Plakat in die Höhe. Aber er konnte Hedvig nirgendwo entdecken.
Susanna ging vor. Hedvig trug in der einen Hand den Koffer, in der anderen ihre Handtasche. Sie hielt sich dicht hinter Susanna, wollte sie nicht aus den Augen verlieren.
Da drehte sich Susanna um und lachte Hedvig zu, stellte ihren Koffer auf den Boden.
»Das da muss dein Bruder sein«, rief sie.
Hedvig sah Carl nun auch. Sie winkte, rief, er konnte sie bei all dem Lärm nicht hören, dann jedoch erblickte er sie ebenfalls.
Es dauerte eine Weile, bis sie zueinander fanden. Sie nahmen sich bei der Hand, lächelten lange, hielten einander fest, wollten nicht loslassen.
Susanna betrachtete sie etwas erstaunt, dann begann sie zu lachen und gab Carl einen kleinen Schlag auf die Wange.
»Du hast einen netten Bruder«, sagte sie zu Hedvig. »Und du, Carl, hast eine nette Schwester.«
Hedvig sagte nichts, sie wollte die Hand ihres Bruders gar nicht loslassen.
»Du bist ganz schön gewachsen«, sagte sie schließlich.
»Du bist auch groß geworden«, antwortete Carl.
»Aber jetzt sind wir jedenfalls in Amerika«, sagte Hedvig.
»Ja, hier ist alles groß.«
An diesem Abend übernachteten sie bei Maartens, einer kleinen Herberge im unteren Teil von Manhattan. Lower East Side, hatte Carl gesagt. Hier hatte er selbst ein paar Tage gewohnt, als er nach New York gekommen war. Das musste gut genug sein, die Mädchen waren wohl nicht sehr verwöhnt? Nein, sie waren es gewohnt, einfach zu übernachten. Aber sie waren so viele Leute nicht gewöhnt.
Carl schlief in einem Männer-Schlafsaal, die Mädchen teilten sich mit zehn anderen Frauen, die auch gerade aus Europa gekommen waren, einen Raum. An diesem Abend konnte man hier viele Sprachen hören, es wurde auf Schwedisch und Dänisch gute Nacht gemurmelt, eine junge Mutter summte ein polnisches Wiegenlied für ihren Säugling, ein Mädchen mit langen Haaren sprach ein Abendgebet auf Italienisch.
Als Hedvig die Augen geschlossen hatte und den Schlaf erwartete, sah sie ziemlich einförmige Bilder vorbeiziehen: das schaukelnde Meer, Wolken und fliegende Möwen, nichts Besonderes. Meist schaukelte es.
Mitten in der Nacht wachte sie davon auf, dass das kleine polnische Mädchen weinte. Die Mutter nahm das Kind in den Arm und trug es zwischen Koffern und Körben auf und ab.
Das Fenster war angelehnt. Irgendwo da draußen bellte ein Hund. Im Hafen heulte eine Schiffssirene. Dann begann das Fenster gegen die Wand zu schlagen, es war nicht festgehakt. Da niemand sonst etwas dagegen unternahm, stand Hedvig auf. Sie blickte hinaus, sah auf eine schmale Gasse hinunter. Dort unten lag jemand vor einer Tür, es war ein kleiner Junge. Dann erblickte sie noch einen Jungen. Die beiden lagen zusammengerollt dicht nebeneinander.
Als Hedvig wieder zurück zu ihrem Bett schlich, schlug eine Uhr in der Ferne viermal.
Wenn es Gott gäbe
Carl und Hedvig hatten beschlossen, ein paar Tage in New York zu bleiben. Susanna war zu ihrem Onkel nach Minnesota gefahren, Hedvig und sie hatten einander versprochen zu schreiben; sie waren wirklich gute Freundinnen geworden.
Es war die letzte Woche im Oktober 1892, das Wetter war mild und schön. Die Bäume in den Parks trugen ihr Laub noch, es fing an sich gelb zu färben. Es war wie im Frühherbst zuhause. Man merkte, dass New York viel weiter südlich als Eskilstuna lag.
Sie tranken Kaffee in der Imbissstube neben der Herberge. In diesen Tagen tranken sie viel Kaffee, dazu gab es das ein oder andere Butterbrot. Am zweiten Tag hatten sie gebratenes Pökelfleisch und Kartoffelbrei zu Mittag gegessen. So etwas aß man zuhause im Winter, hier gab es jeden Tag Fleisch und dazu schwarzen Kaffee.
Hedvig vermisste Milch, Käse und Dickmilch. Ob man das hier wohl bekommen konnte?
Carl war sich nicht sicher, aber soweit er wusste, konnte man in New York Waren aus aller Welt kaufen; wenn man nur das richtige Geschäft fand, konnte man alle möglichen Esswaren bekommen.
Hedvig benötigte auch Nadeln und Nähgarn. Sie musste ein Kurzwarengeschäft und einen Milchladen finden, am liebsten einen schwedischen.
Carl versprach Hedvig, mit ihr auf die Suche zu gehen. Es war zwei Uhr nachmittags, die Sonne schien, das Wetter war gut geeignet, um ein paar Stunden auf den Straßen herumzuschlendern, die großen Häuser zu betrachten, Schaufenster anzusehen. Sie hatten vor, am Abend darauf mit dem Zug nach Boston zu fahren.
»Merk dir den Namen der Herberge«, sagte Carl, als sie aufbrachen, »und die Adresse.«
»Maartens mit langem a, heißt es so?«, fragte Hedvig.
»Ich glaube, dass man es so ausspricht«, sagte Carl, »der Herbergsbetreiber kommt offenbar aus Holland.«
»Maartens in der Baxter Street«, sagte Hedvig.
»Baxter mit ä am Anfang«, sagte Carl, »man spricht hier das a wie unser ä aus.«
»Maartens aber nicht«, sagte Hedvig.
»Er ist Holländer«, sagte Carl.
»Und wir sind Schweden.«
»Wir werden Amerikaner, wenn wir wollen, aber das dauert noch etwas.«
»Ich lasse es wohl auch noch eine Weile dauern.«
Hedvig hatte Geld, ihren Pass, Stifte und Schreibpapier mitgenommen. Sie hatte die Sachen in ihre Handtasche gesteckt. Ehe sie aufgebrochen waren, hatten sie die polnische Mutter gebeten, auf Hedvigs großen Koffer aufzupassen. Sie würde doch wohl in der Herberge bleiben? Hatte sie sie verstanden?
Ja, vielleicht, obwohl sie kein Englisch sprach.
Carl versuchte es mit der Zeichensprache, er zeigte auf den Koffer, auf sie, drei Stunden, drei Finger, ausgehen, auf seine Füße zeigen, er machte ein paar kleine Schritte, du bleibst hier, der Koffer, okay?
Sie nickte.
»Sie versteht uns«, sagte Carl, »understand?«
»Bitte, bitte« – auf Deutsch.
»Was meinst du, what did you say?«
»Understand, ja bitte.«
»Sie versteht es«, sagte Carl, »sie passt auf unseren Koffer auf.«
Sie sagten der polnischen Frau auf Schwedisch und auf Englisch auf Wiedersehen. Als sie den Raum verließen, saß sie mit ihrem kleinen Kind auf dem Bett.
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