Theremin konnte Lavinia nie vergessen. Sie hatte im September 1974 von Clara in New York erfahren, dass Leon noch lebte und ihm geschrieben. 1988, ein Jahr vor ihrem Tod, gestand Lavinia ihrer engen Freundin und Schülerin Diana Dunbar: »Wir schreiben uns wieder. Er hat sogar eine neue Heirat vorgeschlagen.« Wie alle Lieben in Theremins Leben führte auch diese Beziehung zu keinem Happy End.
1990 traf sich John Chowning, Direktor des Doreen B. Townsend Center for Computer Research in Music and Acoustics an der Standford University mit Theremin in Moskau und lud ihn zum bevorstehenden 100. Jubiläum der Universität im September 1991 nach Kalifornien ein. Auch der Filmemacher Steven M. Martin aus New York kam nach Moskau, um diverse Szenen für eine geplante Dokumentation mit Leon Theremin zu drehen. Er träumte davon, Leon auch in New York zu filmen und den Erfinder an die alten Stätten seines Wirkens zu bringen und mit noch lebenden Freunden zusammenzuführen. Die Standford University verschaffte daraufhin Theremin das nötige Visum und übernahm die Reisekosten. Ende September 1991 traf er mit seiner Tochter Natalia, der Enkelin Olga und etlichen russischen Künstlern ein. Theremin war weiterhin äußerst verschwiegen, nur seine Tochter gab zu, dass vor Gorbatschow diese Reise »undenkbar« gewesen wäre. Am 27. September trat Theremin im Alter von 95 Jahren mit seiner Tochter im Frost Amphitheater live auf, tags darauf nahm er an einem Symposium neben Robert Moog teil.
Am 4. Oktober reisten alle nach New York, das Theremin seit seiner Ausreise 1938 nicht mehr gesehen hatte. Es war eine berührende Zeitreise. Clara Rockmore (sie starb am 10. Mai 1998), war anfangs gegen ein Treffen, wollte ihn so in Erinnerung behalten, wie er vor 29 Jahren in Moskau war. Doch dann lud sie ihn doch zum Tee in ihre Wohnung in der 57. Straße ein, die sich in 30 Jahren kaum verändert hatte, und spielte für ihn auf dem Theremin. Professor Leon Theremins Nichte Lydia Kavina, heute eine gefragte Theremin-Interpretin, trat 1992 im Hamburger Thalia Theater in »Alice« von Robert Wilson mit Musik von Tom Waits auf. Am 2. November 1993 hatte Steven M. Martins Dokumentation »Theremin: An Electronic Odyssey« auf BBCs Channel 4 Fernsehpremiere. Der Erfinder sollte das Endergebnis nie sehen. Er verstarb einen Tag darauf friedlich im Schlaf und nahm die meisten Geheimnisse seines verwickelten Lebens mit ins Grab. Dieses liegt auf dem Moskauer Friedhof Kuncevskoye. Auf dem Marmorstein steht nur: TERMEN, Lev Sergeyevich, 28. VIII 1896 - 1993, 3. XI.
Soeur Sourire
Eine singende Nonne gerät aus der Bahn
Jeanne-Paule Marie Deckers: *1933 - †1985
Soeur Sourire ist tot - sie ist tot, es wurde Zeit. Ich sah ihre Seele auf einem fliegenden Teppich durch die Wolken fliegen ...« - Wie kommt eine bis dahin unbeschwerte und unbescholtene Nonne, die unter dem Künstlernamen Soeur Sourire mit ihrem fröhlichen Chanson »Dominique« 1963 die internationalen Hitparaden erobert hatte, dazu, solche Textzeilen für ein Lied zu schreiben? Auch wenn man aufgrund ihres tragischen Todes 1985 versucht ist zu glauben, sie hätte bereits damals, 1967, Selbstmordgedanken gehegt, ist das pure Spekulation. Die »lächelnde Nonne« oder die »singende Nonne«, wie sie in die Geschichte der Popmusik einging, wollte damit vielmehr eine weitere ihrer Alias-Figuren, eines ihrer Pseudonyme, begraben, um unter dem neuen Namen Luc Dominique ein neues Kapitel ihres kurzen und dennoch sehr bewegten Lebens aufzuschlagen. Denn später heißt es im Text:
»Soeur Sourire ist tot - sie ist tot, es wurde Zeit …, ich habe meine Mitmenschen um die Erlaubnis gebeten, mich weiter zu entwickeln, geweiht unter ihnen zu leben, in Shorts oder Kleidern, Blue Jeans und Pyjama ...«.
Jeder dieser sehr unterschiedlichen Lebensabschnitte fand unter einem anderen Namen statt. Man könnte also durchaus behaupten, die Frau hatte keine wirkliche Identität - oder vielmehr, sie hatte ihre Identität schon geopfert, als sie ins Kloster eintrat.
Ihr richtiger Name war Jeanine (Jeanne-Paule Marie) Deckers. Geboren wurde sie am 17. Oktober 1933 in Brüssel als Älteste von vier Geschwistern - Hubert, Edgard und Madeleine. Ihr Vater Lucien war Konditormeister und die Mutter Gabrielle Hausfrau. Sie hatten 1932 geheiratet, er mit 29, sie mit 20. Die wohlbehütete Kindheit endete für Jeanine mit dem Ausbruch des 2. Weltkrieges. Ihr Vater Lucien befürchtete zu Recht, dass auch der wallonische Teil Belgiens darunter leiden würde. Also machte er sich zu Beginn des deutschen Westfeldzuges mit seiner Familie nach Frankreich auf, in der Hoffnung, die Franzosen würden der Übermacht der deutschen Wehrmacht länger standhalten. Doch als sie endlich in Paris ankamen, war dieses bereits von den Deutschen besetzt. Vater Lucien kämpfte als Mitglied der Résistance im Untergrund gegen die Nazis und ließ seine Familie oft in Paris allein, wo sie sich bis Kriegsende 1945 mehr schlecht als recht über Wasser hielt. Danach kehrten die Deckers wieder nach Belgien zurück. Jeanine, die mit ihren zwölf Jahren bereits alle Schrecken, die ein Krieg mit sich bringt, erlebt hatte, machte in Saint Henri nahe Brüssel ihren Schulabschluss.
Die introvertierte Jeanine hatte schon sehr früh ein zeichnerisches und malerisches Talent gezeigt und kehrte 1953 nach Paris zurück, um sich dort an einer Kunstschule als Zeichenlehrerin ausbilden zu lassen. Danach unterrichtete sie bis 1959 an einer Mädchenschule in ihrer Heimatstadt Brüssel.
Was in diesem Jahr zu einem extremen Bruch in ihrem Lebenslauf und einer völlig neuen Orientierung führte und sie dazu brachte, dem Dominikanerinnenorden von Fichermont bei Waterloo beizutreten, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Bis dahin hatte sie keinerlei Anzeichen überzeugter oder schwärmerischer Religiosität gezeigt. Auch ihre Familie war offenbar nicht sonderlich religiös geprägt. Aus finanzieller Not heraus geschah es ebenfalls nicht und es wird auch von keinem spirituellen Schlüsselerlebnis berichtet, das sie zu diesem Schritt bewegte.
Doch sie war verlobt und offenbar bitter enttäuscht, als der Verlobte sie sitzen ließ. So ist die Vermutung am naheliegendsten, dass sie letztlich wegen einer unglücklichen Liebe ins Kloster flüchtete. Dafür spricht, dass sie Mitte der 1960er Jahre in einem Interview Folgendes eingestand: »Ich bin nicht gegen die Ehe, aber die meisten Ehen, die ich kenne, sind deprimierend ... ich bin mir sicher, dass auch unsere Ehe nicht funktioniert hätte, wenn ich meinen Verlobten geheiratet hätte. Ihm fehlte eine gewisse Abenteuerlust.«
Gleichzeitig erklärte sie in diesem Interview auch noch: »Vielleicht heirate ich ja einen netten Dominikanerpriester und wir bekommen Dominikanerbabies. So unwahrscheinlich, wie das klingt, ist das gar nicht.«
Ihre Art von Humor war manchmal so seltsam, dass die Leute oft nicht wussten, ob sie es ernst meinte oder sich über ihr Gegenüber lustig machte. Deshalb hielten sie die einen für etwas einfältig, die anderen für eine Zynikerin. In Wirklichkeit war sie wohl nur eine Träumerin.
Im Kloster wurde sie zu Schwester Luc-Gabrielle - auch dazu existieren zwei Erklärungen. Der ersten Version zufolge nannte sie sich einfach nach den Vornamen ihrer Eltern, der zweiten - und wesentlich romantischeren nach - war es der Vorname ihres verflossenen Verlobten.
Im Konvent herrschten damals noch strenge Regeln, die Nonnen durften zum Beispiel nur selten miteinander reden. Doch Luc-Gabrielle hatte ihre Gitarre mitgebracht und unterhielt sich und ihre Mitschwestern mit religiösen Liedern, anfangs sehr zum Ärger der Mutter Oberin. Doch bald hatte Luc-Gabrielle deren Segen, da zur Tradition des Ordens auch die Jugendarbeit gehörte, und die junge Schwester bei Treffen mit jungen Mädchen das kirchliche Liedgut pflegte. Irgendwann fing sie an eigene Lieder zu komponieren, darunter auch das aufmunternde Chanson »Dominique« über den Begründer des Dominikanerordens:
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