Während man ihn im Westen für tot hielt, entwickelte Theremin für Stalins Geheimdienst die größte Waffe des Kalten Krieges - die »Wanze«. Sie wurde in der amerikanischen Botschaft in Moskau getestet, später wurden damit unter anderem Gespräche von Churchill mit Roosevelt und Eisenhower abgehört. Der Professor wurde dafür mit dem Stalin-Preis, der höchsten Auszeichnung des Landes, geehrt und am 27. Juni 1947 zum freien Mann erklärt, aber seine Akte war damit längst nicht geschlossen. Der Preis beinhaltete 20.000 Dollar und eine Zweizimmerwohnung in der Moskauer Wohnsiedlung Leninsky. Doch sein Pass galt nur für Moskau, er durfte weder nach Leningrad reisen noch offiziell Post bekommen. Seine Familie hatte seit 1938 nichts mehr von ihm gehört. Auch ansonsten war die Freiheit trügerisch: Er bekam keine Arbeit, seine musikalischen Forschungen waren ihm untersagt. Deshalb kehrte er freiwillig zum Geheimdienst zurück. Auch die Bitte, endlich seine Frau Lavinia einreisen zu lassen, wurde abgelehnt. Stattdessen legte man ihm eine neue Ehe mit einer Frau aus der Organisation nahe. Er entschied sich für die jüngste und hübscheste, die sechsundzwanzigjährige Maria Feodorovna Guschina. Am 24. Juni 1948 wurden die Zwillingsschwestern Helena und Natalia geboren und seine kränkelnde Frau verließ die Organisation.
Nach Stalins Tod am 5. März 1953 kam Chruschtschow an die Macht. Theremin musste sich erneut anpassen, um zu überleben. Der NKWD, der mittlerweile zum MWD umbenannt wurde und seit 1954 KGB hieß, blieb weiterhin sein Arbeitgeber. Obwohl Theremin am 14. Oktober 1957 völlig rehabilitiert wurde, durfte er sich weder mit seiner Familie in Verbindung setzen noch bekam er seine Zeugnisse, Unterlagen und Papiere. Damit war er eine anonyme Person ohne Chancen auf ein eigenständiges Leben - und er wurde weiterhin beschattet. Da seine Erfindung, die Wanze, die schlimmste Krise des Kalten Krieges zwischen Amerika und der UdSSR ausgelöst hatte, war nun auch der amerikanische Geheimdienst hinter ihm her. Denn der CIA war 1952 auf die Lauschangriffe in der amerikanischen Botschaft in Moskau gestoßen.
Im Mai 1962 besuchte Clara Rockmore mit ihrem Ehemann Robert Russland und erfuhr auf einem Empfang, dass Theremin noch lebte. Weil eine offizielle Besuchserlaubnis zu lange gedauert hätte, wurde ein Geheimtreffen in einem Moskauer U-Bahnhof arrangiert, wo man sie nicht abhören konnte. Der Mann, der ganz Moskau mit Überwachungsapparaten überzogen hatte, war nun das Opfer seiner eigenen Erfindungen und zum Schweigen verdonnert.
»Abschied« vom KGB bedeutete ein Leben als Pensionär in Einsamkeit. Doch mit 68 war Theremin so rüstig, dass er unbedingt zurück zur Musik wollte. Und er fing bei Null wieder an: Er publizierte Schriften über elektronische Musik, die in Russland seit Stalin brach lag, und arbeitete mit Studenten am Musikkonservatorium. Im Frühjahr 1967 fand Harold Schonberg, Musikkritiker der »New York Times«, bei einem Besuch des Moskauer Musikkonservatoriums heraus, dass Theremin noch lebte und wurde von ihm begeistert durch sein Labor geführt, wo er viele der seltsamen Apparaturen mit kindlicher Freude erklärte. »Er ist ein lebhafter, redseliger Mann von 71 ... und verhält sich wie das Klischee des zerstreuten Professors.« Als Schonbergs Artikel am 26. April 1967 in der »New York Times« erschien, erregte er vor allem bei Theremins noch lebenden Freunden und Kollegen großes Aufsehen. Theremin stieg auf die lebhafte Korrespondenz ein, weil er sich als freier Mann fühlte.
Doch die musikalischen Begriffe und Namen der Instrumente, die in diesen Briefen fielen, waren der russischen Obrigkeit völlig fremd und führten zu dem Schluss, Theremin würde eigene Geheimprojekte im Musikkonservatorium durchführen und an die Amerikaner verkaufen. Diese fatale Schlussfolgerung kostete Theremin abermals die Existenz. Er wurde auf der Stelle entlassen, das gesamte Labor samt Geräten zerstört.
Doch der alte Mann gab nicht auf. Er richtete sich ein neues Labor in seiner Zweizimmerwohnung ein, rekonstruierte die Geräte und begann Studenten privat zu unterrichten.
Der in Russland isolierte Professor hatte keine Ahnung, dass zu diesem Zeitpunkt der Moog Synthesizer die Musikwelt revolutionierte, ein völlig neuartiges elektronisches Musikgerät, das auf der Erfindung seines Theremins basierte. 1949 hatte der fünfzehnjährige Schüler Robert Moog aus Flushing, New York, in der Zeitschrift »Radio And Television News« einen Artikel mit Bauanleitung für einen Theremin entdeckt. Moogs Vater war Elektroingenieur und aktiver Hobbybastler. Wie Theremin studierte Robert Moog Theorie und Piano, ging 1952 ans College und gründete 1954 seine Firma R.A. Moog Company und verkaufte selbst gebaute Theremins. Nach seinem Universitätsabschluss lernte er den Universitätsprofessor Herbert Deutsch kennen. Gemeinsam entwickelten sie die Grundideen zum ersten Synthesizer.
1965 begann Moog mit der Synthesizer-Produktion und entwickelte speziell für den Komponisten John Cage ein Gerät. 1966 wurde der Moog-Mitarbeiter Paul Tanner von Brian Wilson und den Beach Boys engagiert, um auf dem Song »Good Vibrations« den Theremin zu spielen. Die Beach Boys kauften bei Moog einen Theremin, der für eine Tournee so präpariert werden musste, dass Mike Love ihn auf dem Song spielen konnte - auch zu sehen in dem Film »The Beach Boys: An American Band«. Die Heavy-Metal-Band Led Zeppelin setzte ihn auf dem Stück »Whola Lotta Love« und in ihrem Film »The Song Remains The Same« ein. So hielt der Theremin Einzug in die Popmusik, obwohl bereits das neueste, viel einfachere Gerät, der Moog, zur Verfügung stand. 1967 nannte Moogs Firma das neue Instrument zum ersten Mal »Synthesizer« und Moog-Mitarbeiter Sear eröffnete sein eigenes Studio, in dem er das Instrument für viele richtungsweisende Platten programmierte. Bereits 1969 besaßen Bands wie The Rolling Stones, The Byrds und The Monkees ihren eigenen Moog-Synthesizer, in Deutschland waren es Kraftwerk, Florian Fricke, Eberhard Schoener und Tangerine Dream. Im August 1969 organisierte das Museum Of Modern Art in New York in seiner »Jazz In The Garden«-Reihe ein Moog-Konzert. Es fand unweit des alten Theremin-Studios statt und 31 Jahre, nachdem Theremin diese Straßen zum ersten Mal betreten hatte, um eine elektronische Musikära einzuläuten.
Am 30. Juni 1970 starb Theremins Ehefrau Maria mit 49 Jahren an einer Herzschwäche. Inzwischen stand er seinem Cousin Mikhail sehr nahe, der ebenfalls seine Frau verloren hatte. Dessen Tochter, ihr Ehemann und deren beide Töchter lebten ebenfalls in der gemeinsamen Wohnung. Leon kam oft zu Besuch, baute für die Mädchen Kinder-Theremins und unterrichtete sie, vor allem die neunjährige, begabte Lydia. Ihre Eltern wandten sich schließlich an das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei wegen einer eigenen Wohnung für Theremin, der seine mit fünf Personen teilte.
Anfangs wurde Theremin ein Notquartier der Moskauer Universität zugewiesen, das er für seine Arbeit nutzte, später ein Einzimmerapartment in einem Sozialbau ohne Küche und Bad. Als 1986 Michail Gorbatschow die »Perestroika« einleitete und für freie Wahlen plädierte, erklärte Leon Theremin in einem Zeitungsartikel, das Wohnungsamt hätte ihm mitgeteilt, er müsste sich noch fünf oder sechs Jahre gedulden, »nicht gerade beruhigend, wenn man bereits 92 Jahre alt ist«.
Am 21. August 1987 starb in New Jersey auch Theremins erste Ehefrau Katie mit 83 Jahren. Ihrem ältesten Bruder Alexander hatte sie gestanden: »Ich habe ihm verziehen.«
Im März 1989 fanden die ersten freien Wahlen in der Sowjetunion statt und Theremin durfte im Sommer zu einem Symposium namens »Synthesis '89« nach Frankreich reisen. Der »Doyen der Elektronik« trat dort mit seiner Tochter Natalia auf. Doch bei Interviews gab er sich mehr als reserviert. Kurz darauf verstarb auch Lavinia am 19. Juli 1989 mit 73 Jahren unter ungeklärten Umständen. Es hieß, es sei ein Herzinfarkt gewesen. Aber bei einem Einbruch kurz zuvor in ihrer Wohnung war das Fotoalbum verschwunden. In einer anderen Erklärung hieß es, »es sei Nierenversagen aufgrund einer Lebensmittelvergiftung« gewesen. Seltsamerweise verstarb auch ihr Ex-Mann kurz darauf »an einer Lebensmittelvergiftung«.
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