Dazu passt auch, dass manche das Wirken der Stress-Release-Technik geradezu „physiologisch“ spüren:
Eine Kursteilnehmerin erlebte „ein unruhiges Hin-und-Her-Springen im Kopf, mal rechts, mal links – und zum Ende hin floss es auf beiden Seiten ausgeglichen und ruhig“. Andere empfinden ein Elektrisieren oder Pulsieren. Gemeinsam ist ihnen immer, dass es zunächst „asynchron“ beginnt und sich allmählich immer mehr synchronisiert.
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Ein junger Mann beschrieb seiner Therapeutin, die aus der Gesprächssituation spontan in ein Stress Release übergeleitet hatte, nachher: „Das war ja witzig! Ich sah vor meinem inneren Auge die Icons von Computerdateien, wie sie auf dem Bildschirm beim Versenden oder Verschieben von einem Datenträger auf einen anderen wandern. Und gerade in dem Moment, bevor Sie Ihre Hand wieder von meiner Stirn nahmen, blinkte auf dem Schirm auf: „Dateien erfolgreich übertragen!“
Nun ist das Stress Release nicht der einzige Weg, die rechte und die linke Gehirnhälfte im therapeutischen Prozess zur Kooperation zu bewegen; auch eine Reihe anderer Methoden beziehen neben der kognitiven Ansprache (linke Seite) ganzheitliche Elemente (rechte Seite) ein, seien es kreative Therapieformen, systemische Aufstellungen oder andere. Sie alle lassen die „Kontrahenten“ sozusagen näher zusammenrücken. Den Vorteil gerade des Stress Release sehe ich aber darin, dass es sich ohne weiteren Aufwand und sonstige Techniken sofort mit fast jeder therapeutischen Arbeitsweise unaufdringlich verbinden und unterstützend nutzen lässt.
Vielseitig verwendbar
Der Coach eines Hochschulinstituts hatte in einem meiner Seminare und in eigener Therapie das Stress Release kennengelernt und war von seiner Wirkung begeistert. Deshalb überlegte er, inwieweit er es auch seinen Klienten zugutekommen lassen konnte. Obwohl er als Grundlegitimation eine therapeutische Ausbildung hatte, empfand er eine solche „Behandlung“ mit Berühren der Klienten im Rahmen seines universitären Auftrags jedoch als unangemessen. Deshalb bot er ihnen versuchsweise an, nach dem jeweiligen Gespräch selbst für einige Minuten die Reflexpunkte zu halten und das Thema gedanklich zu rekapitulieren. Die Wirkung beschreibt er als so überzeugend, dass weder er noch seine Coachees auf diese kleine Intervention verzichten wollten.
Der Vorlauf zum Stress Release
Woher wissen wir aber – nachdem wir uns für ein Stress Release entschieden haben –, ob dabei überhaupt die richtigen Gehirnareale aktiviert werden? Wie können wir davon ausgehen, dass das Gehirn während dieser Minuten allein durch Berührung von zwei Punkten weiß, was es tun soll, nämlich neue Weichen zu sehr einem konkreten Anliegen stellen (und nicht zu etwas beliebigem anderen)?
Ein logischer Schluss legt nahe, dass sich beim Stress Release im Gehirn das fortsetzt, was es im Laufe der therapeutischen Sitzung ohnehin beschäftigt hat. Denken und Fühlen widmen sich dem Thema, das den Patienten bewegt oder bedrängt und worüber eingehend gesprochen wurde. Solange dieses Anliegen ernsthaft vertieft wird, dürften doch alle entsprechenden Neuronen Funken sprühen!
Das heißt – so banal es klingen mag –, das Stress Release wird so tief greifen wie die vorangegangene Bearbeitung eines Themas. Je besser sich der Patient in seinem Anliegen verstanden fühlt und je besser sein Konflikt auf den Punkt gebracht ist, desto genauer werden gerade die Gehirnareale aktiviert, die es beim Stress Release zu koordinieren gilt.
Dabei ist es sogar unerheblich, ob schon vor dem Stress Release Denken und Fühlen (also rechts und links) gleichermaßen am Prozess beteiligt und damit beiderseits die Zonen angesprochen sind: Wenn eine der beiden Seiten ganz bei der Sache und die andere zumindest leicht angeregt ist, zieht die „schwächere“ durch die Rückkopplung der berührten Reflexpunkte mit! Das gibt sich immer wieder darin zu erkennen, dass Patienten, die sehr „kopflastig“ ins Stress Release gegangen sind, am Ende einen Zugang zum Gefühl erleben, und umgekehrt: Wer eher emotional aufgewühlt war, geht oft mit einem kühleren Kopf und neuer Einsicht daraus hervor.
Geringer Aufwand – hoher Wirkungsgrad
Das ist nun wirklich eine höchst erstaunliche, ja, sensationelle Entdeckung für die therapeutische Begleitung: Eine minimale neuronal-reflektorische Intervention scheint den Menschen in die Lage zu versetzen, nach entsprechender Vorarbeit alte Erfahrungen, Denkmuster und Reaktionsweisen neu zu bewerten, sich von Prägungen zu lösen und in „festgefahrenen“ Lebensthemen neue Spielräume zu eröffnen …
Es scheint so, als würden beim Stress Release die inneren Kontrahenten an einen Tisch gesetzt und hätten erstmals Gelegenheit, „auf Augenhöhe“ miteinander zu kommunizieren.
Die Aussagen von Patienten nach dem Stress Release beschreiben das Ergebnis dieses inneren Vorgangs recht einheitlich – so, wie es bereits bei der Selbsthilfeversion von Stress Release anklang: Sie geben an, sich ruhiger, klarer, stabiler, zuversichtlicher, geordneter zu fühlen. Oder noch allgemeiner könnte man sagen: Sie sind jeweils ein Stück mehr zu sich gekommen, „bei sich“. Das kann sich sogar darin ausdrücken, dass jemand nach dem Stress Release weint oder auf andere Weise emotional betroffen ist, wenn bis dahin eine solche persönliche Besinnung noch nie zugelassen wurde.
Tiefe emotionale Wirkung
Ich begleitete eine Patientin schon eine Weile durch sehr kritische Zeiten in beruflichen und familiären Umbrüchen. Sie arbeitete unter schwierigen Umständen in einer verantwortungsvollen Position, hatte drei kleine Kinder und kaum praktische Unterstützung in der Bewältigung des Alltags. Immer wieder ging es um die Entscheidung über den richtigen Weg für sie, damit sie unter der Last nicht völlig zusammenbrach.
Nach einem Stress Release, das wir an ein Gespräch zu einem eher alltäglichen Thema anschlossen, brach sie in Tränen aus. Einen Augenblick lang war ich verunsichert, weil ich damit nicht gerechnet hatte. Mein erster Gedanke war, dass ich ihr in dieser Sitzung vielleicht nicht gerecht geworden war und unterschwellig ganz andere Fragen angestanden hätten. Auf meine Nachfrage sagte sie, dass sie während der letzten Minuten zum ersten Mal in aller Deutlichkeit gespürt habe, wie sehr sie jede Art von Selbstfürsorge über Jahre hinweg ignoriert habe. Sie sah, wie wenig sie sich zugestand, dass sie unter der maximalen Überforderung litt. Sie war erschüttert – aber sie stand kurz darauf erfrischt auf mit den Worten: „Jetzt weiß ich endlich, worum ich mich kümmern muss!“
Ziel und Ergebnis des Stress Release ist also keineswegs ein oberflächliches Wohlbefinden, sondern ein Zu-sich-Kommen. Und das kann sich durchaus unterschiedlich ausdrücken, eben auch durch emotionale Betroffenheit.
Die praktische Durchführung
Wenn auch Sie sich nun angeregt fühlen, das Stress Release in therapeutische Begleitungen zu integrieren und erste Erfahrungen bei Ihren Patienten zu sammeln, dann sollten wir an dieser Stelle noch zwei Dinge konkret ansprechen: die möglichen Gelegenheiten zur Anwendung und vor allem den Ablauf und die Rahmenbedingungen.
Wegen seiner ordnenden und ausgleichenden Funktion hat das Stress Release breit gefächerte „Indikationen“:
– als Selbsthilfe in aufwühlenden oder belastenden Situationen (wie bereits angesprochen). (In diesem Sinne kann ein kurzes Stress Release den Patienten auch schon vor der eigentlichen Bearbeitung angeboten werden, falls sie angespannt, nervös oder hektisch zum Termin erscheinen.)
– als Abschluss einer Gesprächssitzung – damit sich alles Bearbeitete setzen, ordnen und verankern kann.
Das Vorgehen:
● Grundsätzlich erkläre ich meinen Patienten vorab Sinn und Ablauf der Stress-Release-Technik. Meist nutze ich dafür das Erstgespräch, wenn ich sie mit meiner Arbeitsweise vertraut mache; selten muss ich es unmittelbar vor der Durchführung erklären. Dann allerdings spreche ich nur ganz kurz davon, „das Gehirn zu unterstützen, die besprochenen Dinge durch eine Reflexbehandlung zu ordnen“ – um die Aufmerksamkeit nicht zu sehr vom Thema abzuziehen.
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