» Ja zaraz wraca! «, schrie er hinaus. »Ich komme gleich!« Kam wieder zurück. »Jetzt mach, Junge, stell dich nicht so an«, tat er freundlich, »Rhabarber ist gesund! Willst doch groß und stark werden, oder? Komm, ein Löffel noch!« Griff sich die kleine Nase und hielt sie zu. Als der Junge, nach Luft schnappend, den Mund öffnete, schob er ihm einen gehäuften Löffel voll hinein. Hielt die Nase weiter fest im Griff, bis alles hinuntergeschluckt war. Ignorierte das Würgen, den Strom von Tränen.
»Na siehste, geht doch!«, sagte er zu beiden, gab dem Jungen noch einen harten Klaps auf den Kopf und der Mutter einen noch härteren auf ihr dürres Hinterteil. Schnappte sich seine Tasche und polterte hinaus.
Schnell griff die Mutter sich den abgestoßenen weißen Emaille-Putzeimer und hielt ihn dem Jungen vor das hochrote Gesicht, nur um die Nase herum noch weiß von den eisernen Fingern, und im hohen Bogen erbrach der sich in den Eimer, ein rot-grüner Schwall von Zerkautem und Galle, während ihm der Schweiß in dicken Tropfen aus der Stirn brach.
Keuchend hielt er inne.
»Groß und stark!«, flüsterte er. »Groß und stark! Wenn ich groß und stark bin, schlag’ ich ihn tot!«
Von draußen hörten sie das Gelächter der beiden Männer, dann knallte eine Wagentür, der Motor brüllte auf, und sein böses Grollen entfernte sich langsam, verlor sich im Grau des beginnenden Tages, im Knistern des Herdes, dem Ticken der großen Uhr auf dem Küchenschrank, dem Kratzen des Löffels, mit dem die Mutter den Rest des Essens in den Eimer schob, ihrem bebenden Atem.
»Dann musst du essen!«, kam es tonlos aus ihrem Mundwinkel, als sie sich wegdrehte und, den Löffel noch in der Hand, ein hastiges Kreuzzeichen über ihrer mageren Brust schlug.
»Ja, allerdings, mein Freund: Was ’ne Woche«, bestätigte ich meinem Spiegelbild noch einmal und bemühte mich, den Rallyestreifen zwischen meinen Koteletten zu rasieren, ohne mich umzubringen. Your face / Is drawing / Crazy patterns / On my mind *, sang Tom Rapp nebenan. »Wenn ich das nächste Mal abhebe und es meldet sich ein Herr Eisenmacher, sag’ ich ‚Falsch verbunden!’ und lege sofort wieder auf. Wie soll ich dich eigentlich nennen?«
» They call me Mister Pitiful «*, sang er. »Aber immerhin tausend Ocken! Plus Fahrgeld – da hast du doch nicht mit gerechnet, oder?« Hatte ich nicht. »Und dein Name auf dem Cover einer Platte, die sich wahrscheinlich deutlich mehr verkaufen wird als alle drei Penner’s Radio-Alben zusammen. Is’ doch auch was, oder?« War auch was. »Und trotz Kiffer-WG jeden Abend gemütlich angeschickert in die Koje. Hättste au’nich’ gedacht, hä?« Hatte ich auch nicht. »Und beinahe nicht mal immer alleine! Hättste damit gerechnet?« Nein, damit hatte ich allerdings überhaupt nicht gerechnet.
»Blödmann!«, knurrte ich. That’s how I got my fame , bellte Mr. Pitiful fröhlich …
»Wie, du hast keinen Schlafsack dabei?!«, hatte Sibylle sich gewundert, als der Schrat nach dem Essen wieder hereinkam und mein Gepäck neben einen der drei Kühlschränke pfefferte.
»Wusste nicht, dass ich hier neuerdings einen brauche«, klimperte ich sie an. Sie wurde rot und zerpflückte heftig ein Stück Kerzenwachs. Nicht besonders fair von mir, aber sie ging mir zusehends auf die Nerven, und das schon am ersten Abend. Dass sie gleich versuchte, mir ein Bündel Verhaltensmaßregeln für die Woche aufzudrücken, hätte ich ja noch lustig gefunden, wenn mir auch ihre Behauptung, Raimund sei jeden Morgen um acht mit Elvis eine Runde durch die Botanik gelaufen, schwer danach klang, als wollte sie bloß dafür sorgen, dass ich nicht wieder bis morgens um fünf mit dem Schrat und einem Kasten Bier um den Billardtisch herumhing. Dass ich während meines Aufenthalts einmal mit Kochen und einmal mit Abwaschen dran sei, war für mich sowieso selbstverständlich. Dass sie aber meinte, sich auch einmischen zu müssen, als wir anfingen, über die Stücke zu reden, auf denen ich trommeln sollte, ging mir entschieden zu weit. Darüber würde ich mit Hansi noch genügend Zoff kriegen, dafür brauchte ich die Weisheiten der Band-Mutti wahrhaftig nicht.
»Ich hab’ noch ’ne zweite Steppdecke«, sprang Paul ein.
»Alles klar«, sagte ich.
»Morgen nach dem Frühstück hören wir uns mal an, was wir bis jetzt auf Tape haben«, entschied Hansi, ganz der Kapellmeister, »und dann spielen wir dir mal vor, was an neuem Material da ist.«
»Un’ dann ’ne Jam-Session, ey!«, beteiligte sich Selmer. Super , dachte ich. Session hieß bei Selmer, der wiederum Selmer hieß, weil er nie ein Saxophon einer anderen Marke auch nur anfasste, dass er nach dem vierten Joint sein Echogerät nachjustierte, bis es klang, als hätte man fünf Fichtelgebirge hintereinander gestapelt. Dann trötete er in eins seiner Hörner, ein, zwei, vielleicht sogar drei Töne, lauschte erst mal ein paar Takte versonnen und weggetreten dem Weg der Echos hinterher, und erst, wenn von irgendwo in Freakistan eine Antwort kam und seinem vernebelten Hirn sagte, dass er es ruhig wagen könne, sich zu einem vierten Ton durchzuringen, kam er wieder auf den Teppich und an sein Mikrophon zurück.
Leider war es sein Ehrgeiz dabei auch, das Echogerät auf das Tempo des Stückes einzustellen, das gerade gespielt wurde. Was er allerdings höchst selten schaffte, bevor seine Mitspieler mal wieder einen der bei Jam Sessions üblichen und häufigen Tempowechsel vollzogen hatten.
Also beschränkte sich der kreative Beitrag des Saxophonisten die halbe Zeit auf ein kurzes Tuut , dem vom Bandecho eine lange Reihe schneller und wieder langsamer werdende tutututuutuuuutuuuutuututututs folgten. Versuch mal, zum Takt eines Metronoms einen Tischtennisball auf einen Steinfußboden fallen zu lassen.
Hinzu kam, dass auch Paul, an sich ein netter Mensch und ein klasse Gitarrist, zu später Stunde den Versuchungen des einen oder anderen Hallgeräts nicht widerstehen konnte und zu ein paar von seinen typischen merkwürdigen Akkorden – er spielte umgebaute Gitarren, an denen die tiefe E-Saite unten und die hohe oben lag – anfing, Gesang zu improvisieren. Wie gesagt, ein toller Gitarrenmann, aber sein Gesang klang wie Frl. Menken auf Rohypnol. Und sein Englisch war nicht halb so gut wie Rudi Carrells Deutsch.
Allerdings hatte er noch einen guten Grund, auf lange Gitarrensoli zu verzichten, und der hieß Hansi Hedegger. Und so spielte er auch. Häddäggähäddäggäddäggäddä hackte er mit einem riesigen, viel zu harten Plektrum aus Büffelhorn seine Sechzehntel auf den straff gespannten, viel zu dünnen Saiten seines Kramer herum, einer amerikanischen Bassgitarre, die zu allem Überfluss noch einen Hals aus Stahl hatte – kein bisschen naturhölzerne Wärme. Die Höhen und oberen Mitten seines Verstärkers waren bis zum Arsch aufgedreht, sodass sein Geschrabbel klang, als hämmerte jemand mit Moniereisen auf einem Sauerkrautfass herum. Vielleicht hatte das ja diesen englischen Journalisten zu dem Begriff Krautrock inspiriert. Zum Ausgleich, und weil ihm vielleicht in einer Auftrittspause doch noch jemand geflüstert hatte, dass er doch der Bassist sei, drehte Hansi auch noch alles zwischen achtzig und hundertachtzig Hertz bis hinten gegen – wenn er mal gelegentlich einen tiefen Ton ausklingen ließ, hatte man Angst, seinen Schlagzeughocker voll zu spratteln. Kam aber zum Glück selten vor.
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