Was red’ ich da – neuerdings stand da zumindest ein Kicker, und Elvis lag daneben auf seinem eigenen Sofa, einem riesigen schmuddeligen Ungetüm aus zerfetztem violetten Leder. Missmutig und krachend kaute er an einem halben Birnbaum – auch ihm blieb nichts anderes übrig, als zu Hause Vegetarier zu sein. Von einem Köter, besonders dieses Formats, natürlich ein bisschen viel verlangt, weswegen er sich gelegentlich mal eine Nacht in die Wälder der Gegend verdrückte. Und wenn er dann zufrieden grinsend heimkehrte, war, was manchmal noch von seinen Lefzen tropfte, gewiss kein Johannisbeersaft.
»Der Büb«, konstatierte Hansi lässig, aber korrekt. »Kommt mal wieder was Leben in die Kräuterbude, wie?« Er klopfte mir ein paarmal auf den Rücken und befummelte meine Rechte. Ich fühlte mich wie Hänsel, aber ich war wohl immer noch nicht fett genug, denn die Knusperhexe ließ von mir ab und setzte sich wieder an sein Schachbrett.
»Springer auf f9«, sagte ich. Verdutzt guckte er auf seiner Partie herum, bis er den blöden Witz schnallte und säuerlich grinste. Selmer wollte sich hingegen nicht mehr einkriegen vor Lachen.
»Springer auf f9!«, jaulte er. »Läufer auf fis-Moll 7!!«
»Schockemöhle auf Alarich«, ergänzte Paul grinsend.
»Wilson Pickett auf Lester Young!!!«, kreischte Selmer. Kiffer .
»Essen is’ fertig, Kinners!«, klatschte Sibylle in die Hände. »Sagt jemand dem Schrat Bescheid?«
»Nit nodig«, brummte es von der offenen Küchentür her. Weit offen, denn der Schrat war so breit wie groß, und er war ziemlich groß. Ein Bär von einem Kerl, mit wilden schwarzen Locken und einem noch wilderen schwarzen Bart, dem die lila Latzhose, die er trug, ähnlich gut stand wie mir das Gelbe Trikot. Wir führten ein kleines Wiedersehenstänzchen auf.
»Mann, hab’ ik auf dir chewartet!«, holländerte er strahlend, angelte zwei Pullen Bier aus seinen Hosentaschen und knackte zwischen seinen Pferdezähnen die Kronkorken ab. »Endlik einen, mit dem ik mal wieder ein’n zischen kann! Wat, Billa?« Sibylle sagte nichts, aber ihr Gesicht sprach Bände. Ihre ganze schöne Hausmütterchen-Autorität drohte flöten zu gehen. »Die Mary Ann aber ließ ihn nicht los«, sang der Schrat. »Wat, Büb, oude klootzak ?«
Damit war ich sein Freund geworden, als wir uns vor ein paar Jahren kennenlernten, auf irgendeinem Festival irgendwo in Ingendingenhingen (ob Rabotti auch da gewesen war, damals?). Als ich ihn das erste Mal sah, war mir spontan das alte Freddy-Quinn-Lied in den Kopf gekommen, und ich hatte es ihm gleich vorgesungen. Und an mehreren Theken noch mehrmals vorsingen müssen, er hatte es nämlich nicht gekannt und war völlig begeistert – ein eigenes Lied! Für ihn, der doch bloß Roadie bei einer Krautrock-Kapelle war! So groß wie ein Baum und stark wie ein Bär / So fuhr er das erste Mal über’s Meer … Und Big Bill Broonzy wälzte sich in seinem Grab herum.
Arm in Arm walzten wir eine halbe Runde um den Tisch.
»He, koptein «, dröhnte mir der Schrat ins Ohr, »has’ du schon Mischa kenne’chelernt, mein Meisje ?« So viel zu »später genauer angucken« – rundum appetitliche, schwarzlockige Einssechzig sprangen in seinen Arm, reichten mir ein schwitziges Händchen und versuchten, mir die Finger zu zerquetschen.
»Tach, Herr Klütsch, isch ben et Mischa, us Lungke. Alles en Dortmund?«* Sie nahm dem Schrat seine Pulle aus der Hand und holte aus. Na, war das auch erledigt – um vorlaute Frauen mit schwitzigen Händen mach’ ich eh lieber einen Bogen.
»Teller!«, machte Sibylle Boden wett. »Besteck! Brot!«
»Willkommen in Hinderup«, grinste Paul. Ich ließ das kölsche Mädchen unsere Flaschen aneinander knallen und mir erst mal das Bier in den Hals laufen. Trocken, wie der schon wieder war.
»Isch kenn’ disch!«, verkündete Mischa dann auch noch. »Isch hab’ disch mal mit dem Kathrinschen zusammen jeseh’n – auf’m Mädschenklo im Session !« Ihr Kichern verriet, dass das nicht beim Lippenstift-Nachziehen gewesen war.
»Tja, die Welt is’ klein«, brachte ich hervor.
»Un’ – wie jeht et der? Seid ihr noch zusammen?«
»Nö«, sagte ich, machte die Pulle alle und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie weh das »Nö« tat.
»Komm, Herr Baggermann, sei unser Gast und segne, was du uns eingedudelt hast«, mussten wir dann am Tisch beten, während alle sich an den Händen gefasst hielten. Aber wenigstens spendierte uns Herr Baggermann Rotwein zum Essen.
... and life is not a song ...
Du bist selber schuld!«, schimpfte sie. Ihre Stimme klang zittrig, brüchig, als leide sie innerlich doch ein bisschen mit ihm – aber natürlich würde sie nicht eingreifen, natürlich würde sie ihn nicht retten. Das hatte sie einmal versucht, als er im Winter auf der im Hof gestreuten Asche knien musste, weil er mit Streichhölzern gespielt und ein Loch in die Tischdecke gebrannt hatte. Der Alte hatte sie geohrfeigt, grob an den Haaren herumgezerrt und sie ebenfalls dort knien lassen, zwei Stunden lang, frierend, mit schmerzenden Kniescheiben, schluchzend. Nein, sie würde ihm nicht helfen. Nicht helfen können.
Noch ein Löffel voll. Rhabarbergemüse mit Kartoffelbrei. Kalt – der Rest seines Abendessens. Von gestern. Da war der Junge nach mehreren Schlägen in den Nacken, nachdem ihm der Alte zweimal das Gesicht in den halb geleerten Teller gedrückt hatte, ins Bett geschickt worden, mit dem bekannten, gefürchteten Versprechen. Die halbe Nacht hatte er würgend wachgelegen, lautlos unter seiner Decke geweint, ein Erdbeben, einen Blitzeinschlag, eine Panzerarmee herbei gebetet.
Und selbstverständlich hatte der Alte es sich nicht nehmen lassen, ihn schon vor dem Morgengrauen aus dem Bett zu zerren, in die noch kalte Küche, während sie den Herd in Gang brachte. Hatte den Teller aus der Vorratskammer geholt, zum Glück nicht bemerkt, dass sie ein unauffälliges Häppchen davon schon hatte verschwinden lassen, die eklige rosarote Pampe auf den Küchentisch geknallt und ihn auf den Stuhl davor gedrückt.
»Und das isst du jetzt!« Und als Prophylaxe gleich zwei schmerzhafte Kopfnüsse dazu.
Drei Löffel hatte der Junge geschafft, den widerlichen Brei gekaut, fast eine halbe Stunde immer wieder und wieder im Mund umher gewälzt, bis er sich überwinden konnte, ein kleines Bisschen davon hinunterzuschlucken; klar wusste er, dass das Zeug nur immer ekliger wurde, je länger er das Schlucken hinauszögerte – aber die Angst, dass es sich wieder selbständig machte, seine Speiseröhre sich weigerte, es weiterzubefördern, sein Magen sich weigerte, es anzunehmen, war zu groß. Und dann war es ihm doch hochgekommen. So gerade noch schaffte er es, den Kopf zur Seite zu drehen. Schon einmal, im letzten Herbst – Breitlauch mit Graupen – war es ihm passiert, dass er, sich übergebend, den Teller getroffen hatte, und er hatte alles zusammen aufessen müssen – das schlimmste Frühstück seines Lebens.
Jetzt traf ihn eine Ohrfeige, die ihn seitlich vom Stuhl warf, aber bevor er sich unter dem Tisch verkriechen konnte, war die Hand da, packte das Fleisch an seinem Oberarm und riss ihn wieder hoch.
»Gottverdammter –« Draußen röhrte ein Lastwagenmotor, und eine heisere Hupe erklang zweimal.
»Ach, der Wolfi«, rief seine Mutter, bemüht beflissen, einen schrillen Unterton von Verzweiflung in der Stimme, von Hoffnung auf Erlösung. Sie packte die verbeulte Aluminiumdose mit den Butterbroten und die Kanne mit dem Getreidekaffee in die verschlissene braune Aktentasche, drei hartgekochte Eier. »Hier, ich tu’ dir zwei Äpfel dazu!« Der Alte schnaubte verächtlich, ging zum Vorderfenster und öffnete es.
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