Sein Geständnis verblüffte mich tatsächlich. Wie hatte er in diese Lage kommen können sich zu prostituieren? Ich spürte eine Abneigung, ja eine Fremdheit, die nicht zu überbrücken war. Immerhin hatte er sich mir anvertraut und wirkte ziemlich kleinlaut. Bei allem Widerstand beeindruckte mich seine Offenheit. Immer mehr war ich davon überzeugt, dass er noch mehr Geheimnisse besaß, die er mir Schritt für Schritt offenbaren würde. Vor allem aber war ich erleichtert, dass er trotz seiner scheinbar abenteuerlichen Reisen keinen glänzenden Lebenslauf vorzuweisen hatte. Es war deutlich zu spüren, dass er uns um unser geordnetes Dasein beneidete.
5
Unser Alltag hatte sich seit diesem Frühjahr verändert. Johanna machte sich zu Hause rar, sie wollte kaum noch Zeit mit uns verbringen und traf sich lieber mit ihren Freundinnen. Auch zu Besuchen bei den Großeltern wollte sie nicht mehr mitkommen, was dazu führte, dass Lissi und Ernst uns noch häufiger zu sich einluden. Sie versuchten praktisch jeden zweiten Sonntag uns zum Mittagessen in ihre Wohnung am Stadtgarten zu lotsen. Mit viel diplomatischem Geschick bog Eveline in drei von vier Fällen einen Besuch ab, auch weil sie wusste, dass ich nicht viel Sinn für diese Familiensitzungen hatte. Dagegen war es eine Seltenheit, dass wir von ihnen Besuch bekamen. Sie schienen wenig Verlangen nach einer Rückkehr in ihr altes Haus zu haben, wobei Ernst noch eher dazu bereit war als Lissi, die manchmal genervt ausrief: „Ach, die alte Bretterbude will ich nicht mehr sehen!“
Das war ungerecht dem schönen Haus gegenüber. Ich vermutete, dass sich Lissi ungern an die steilen Treppen im Haus erinnerte, die die Bewohner täglich zu Turmbesteigungen zwangen. Für Eveline und mich waren diese Treppen eine leicht genommene sportliche Übung. Ich hatte mir immer schon heimlich gewünscht in einer solchen Bürgervilla zu wohnen, wo eine alte Standuhr den Takt vorgab, während durch ein kleines vergittertes Fenster in der Diele und ein kaum größeres in der Küche ewiges Dämmerlicht fällt. Sicher waren es ausschließlich die Spuren von Evelines Eltern, die uns umgaben, aber Eveline verstand es, die nötigen Modernisierungen vorzunehmen, so dass nie der Eindruck entstand in einem Museum zu wohnen.
Allerdings konnte ich zu Hause nicht effektiv arbeiten und musste, auch wenn es eine zusätzliche finanzielle Belastung bedeutete, ein kleines Büro unterhalten. Nur dort war ich frisch und geistig klar genug. Das Büro war leer, es gab keine Bilder an den Wänden und das Fenster zeigte die Kronen zweier Straßenbäume. Auf dem Schreibtisch lag immer ein ansehnlicher Papierstapel und ein paar kleine beschriftete Zettel, die eine Verbindung zum Unerledigten darstellten.
Während der Arbeit musste ich unbedingt offline sein, um die Trägheit im Gehirn aus eigener Kraft zu besiegen. Falls ich zwischendurch Anregungen brauchte, ging ich hinunter in die Galerie Weinbrenner und drehte dort eine Runde durch die drei Räume, in denen stets wechselnde Ausstellungen zu sehen waren.
Eines Nachmittags stieß ich dort auf eine Ausstellung, die Horror- und Albtraummotive zum Thema hatte. Es waren DIN A4-große Federzeichnungen und Lithographien, die menschliche Wesen in starken Verrenkungen und mit geöffneten Mündern darstellten. Die Künstlerin orientierte sich offensichtlich an Goyas Lithographien, den Schlaf der Vernunft und die Macht des Irrationalen. Ein Bild zeigte den weit aufgerissenen Rachen eines aufrecht stehenden Ungeheuers, von dessen Kopf zottelartige Haut- und Haarfetzen abstanden, die wie in einer heftigen Bewegung um das Tier herum wirbelten. „Die Bärin“, so lautete der Titel dieser Zeichnung.
Mich beeindruckten diese Fratzen, zumal mir die Bildästhetik in den Zeichnungen gelungen schien und viele sorgfältig ausgearbeitete Details meinen Blick fesselten. Ich blieb länger in der Galerie als ich eigentlich beabsichtigt hatte; außer mir war niemand im Raum, so dass die Ungeheuer sich direkt an mich zu richten schienen.
Merrit Merrit (so hieß die Künstlerin) verstand es ausgezeichnet mit dem Unheimlichen zu spielen. Ich bedauerte, die Vernissage verpasst zu haben, wo sie bestimmt anwesend war. Vielleicht würde sie noch einmal bei der Finissage in die Galerie kommen. An diesem Abend würde ich ihr sogar eine der Zeichnungen abkaufen (sie waren nicht teuer, kosteten zwischen 1200 und 1400 Euro). Ich stellte mir Merrit Merrit vor: dunkles langes Haar, nicht sehr groß, unscheinbar gekleidet. Ein nachdenkliches, kluges Gesicht. Merrit wusste, dass Angst und Seelenqualen unwiderstehliche Attraktivität besaßen.
Nachdem ich die Ausstellung verlassen hatte und ins Büro zurückgekehrt war, konnte ich mich plötzlich nicht mehr auf meine Arbeit konzentrieren. Als wäre ich in einen Strudel geraten, flogen meine Gedanken hin und her und fanden keine Ruhe. Das Schlimmste an derartigen Zuständen war die Hilflosigkeit, in die sie mich versetzten.
Ich legte ein leeres Blatt Papier vor mich hin – sozusagen zur Abwehr der bösen Geister. Wäre ich jetzt zu Hause, würde ich ins Wohnzimmer oder in den Garten gehen, um mich abzulenken. Aber in diesem Zimmer gab es keine Ablenkung. Das Zuhause bestand aus tausend Zerstreuungen, während das Büro wie eine Gefängniszelle war. Ein Ort, der nur dazu diente die Gedanken in eine klare Reihenfolge zu bringen.
Doch ich hatte nicht die Kraft mich zu sammeln und mir den Tsunami vorzustellen und merkte zu meinem Entsetzen, dass ich wohl auch in Zukunft nicht mehr dazu fähig sein würde. Der Tsunami war für mich zu einer gedanklichen Unmöglichkeit geworden.
Das hing sicher mit Frank Kalina zusammen. Wenn es stimmte, dass er Zeuge der Katastrophe gewesen war, dann hätte ich ihn danach befragen sollen. Durch ihn hätte ich Details erfahren können, die ich nirgendwo sonst bekam. Aber ich wollte das Thema allgemeiner verstanden wissen und zu Geschichten formen. Die meisten Texte, die ich bisher bekommen hatte, spielten nicht im Südpazifik, sondern umkreisten die Katastrophe aus der Ferne.
Doch jetzt konnte ich mir keine Geschichte mehr über böse Naturmächte ausdenken. Ich saß nur da und dachte an Frank Kalina. Schließlich nahm ich das weiße Blatt Papier und notierte: „Frank Kalina – alias Frank Steiner – arbeitet als Callboy auf Bali, später als Animateur auf Teneriffa. Er heiratet und lässt sich schon nach einem dreiviertel Jahr wieder scheiden. Er kehrt erst nach vielen Jahren im Ausland nach Deutschland zurück. Warum nach Karlsruhe? Ist es das Geld seiner Tante?“
Es las sich wie die Stichpunkte zu einer Erzählung. Aber natürlich hatte ich nicht vor eine Geschichte über Frank zu schreiben.
Den weiteren Tag im Büro verbrachte ich damit, zwei Artikel zu beenden, die nichts mit dem Tsunami zu tun hatten. Ich schickte sie sofort ab, konnte aber nur halb davon ausgehen, dass sie wirklich gedruckt wurden.
Am Sonntag kamen meine Schwiegereltern zu Besuch. Eveline hatte ihnen versprochen, dass auch Johanna dabei sein werde. Wir setzten uns ins Esszimmer, wo es an diesem Tag wie im ganzen Haus ungewöhnlich warm war. Ich merkte, dass Johanna nur auf eine Gelegenheit wartete nach oben zu gehen. Obwohl ich sie gut verstand – da auch ich mich etwas langweilte –, blieb ich unerbittlich, wich ihren Blicken aus und tat so, als sähe ich sie nicht.
Wir hatten gerade den Nachtisch hinter uns gebracht, als es an die Terrassentür klopfte. Lissi und Ernst schienen es nicht zu hören, es war ein leises, aber beharrlich anhaltendes Klopfen. Von unserem Platz aus war die Terrassentür nicht zu sehen. Eveline schaute mich an, als erwarte sie, dass ich aufstand und nachsah. Sie ahnte genau wie ich, um wen es sich handelte. Ich überlegte nicht lange, warf die Stoffserviette neben meinen Teller und ging zur Tür.
Als ich mit Frank an den Tisch kam, berichtete Eveline ihnen bereits von unserem neuen Freund. Eigentlich war es mir recht, dass sie versuchte die Störung auf diese Weise zu überspielen.
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