Volker Kaminski, geboren 1958 in Karlsruhe, hat Germanistik und Philosophie studiert, lebt in Berlin. Neben Kurzgeschichten, Rezensionen und Glossen (Berliner Zeitung) hat er bisher sechs Romane veröffentlicht, zuletzt „Gesicht eines Mörders“ (2014), „Rot wie Schnee“ (2016) und „Auf Probe“ (2018). Seit 2014 ist er Lehrbeauftragter an der Alice Salomon Hochschule Berlin für das Modul Creative Writing/Romanwerkstatt.
Volker Kaminski
Der Gestrandete
Roman
1
Als das Handy in meiner Sakkotasche klingelte, zog Eveline die Augenbrauen hoch. „Keine Handys am Esstisch“, so lautete eigentlich unsere bewährte Familienregel. Das galt besonders bei meinen Schwiegereltern, sonntags beim Mittagessen. Daran hielt sich selbst Johanna, die immer geduldig bis zum Nachtisch wartete, bevor sie sich mit ihrem Handy in den Garten oder aufs Sofa zurückzog.
Heute war Johanna nicht dabei, sie hatte bei einer Freundin übernachtet. Von ihr kam der Anruf, wie ich jetzt sah, vielleicht war sie schon zu Hause und wollte sich zurückmelden. Ich hielt das Handy ans Ohr und verließ das Zimmer.
„Papa, stell dir vor, was passiert ist!“ Johanna klang ziemlich aufgeregt. „Ich bin gerade nach Hause gekommen und wollte mir aus dem Keller eine Flasche Mineralwasser holen. Da sehe ich, dass dort unten das Licht brennt, ich hab mich gewundert und bin leise runtergegangen – und dann sitzt dort ein Typ am Tisch!“
„Was für ein Typ?“
„Ich weiß nicht, ein Mann eben. Er sitzt da am Tisch, trinkt Wein und blättert in irgendeiner Zeitschrift ... Ich bin ganz schnell wieder hoch und habe die Kellertür abgeschlossen. Zweimal.“
Ich erklärte ihr ruhig, dass sie alles richtig gemacht habe und jetzt kein Grund mehr zur Panik bestehe.Wir würden sofort aufbrechen und spätestens in einer Viertelstunde zu Hause sein.
„Shit“, sagte ich, als ich an den Tisch zurückging, „zu Hause hat sich ein Malheur ereignet. Hanna hat beim Nachhausekommen festgestellt, dass unsere Waschmaschine ausgelaufen ist und jetzt der halbe Keller unter Wasser steht!“
Dabei blickte ich Eveline so intensiv an, dass sie ihren Widerspruch, der ihr auf der Zunge lag, unterdrückte.
„Ach Gott, das alte Ding“, sagte sie, „da sollten wir uns gleich mal um die Überschwemmung kümmern.“ Sie stand auf und begann ein paar Teller einzusammeln.
„Lass das doch, Kind“, sagte ihre Mutter, „das mach ich schon. Geht nur gleich nach Hause.“
„Wieder mal die Technik“, seufzte ihr Vater, „immer funkt sie einem dazwischen. Lasst uns aber heute Abend wenigstens noch mal telefonieren.“
Bereits auf dem Weg zum Auto klärte ich Eveline über den wahren Inhalt des Telefongesprächs auf.
„Wer kann das sein?“, fragte sie, als wir im Wagen saßen und starteten. „Was will der Mann in unserem Haus? Das ist doch Wahnsinn! Kannst du dir einen Reim darauf machen?“
Ich schwieg.
„Ein Einbrecher verhält sich doch nicht so, oder?“
„Glaub ich auch nicht. Hanna sagt, er sitzt hinter der verschlossenen Kellertür und rührt sich nicht. Wir werden es ja gleich erfahren.“
„Wir müssen die Polizei rufen.“
„Lass uns doch erst mal nach Hause fahren, die Lage sondieren. Vielleicht gibt es ja eine harmlose Erklärung.“
„Ich ruf Hanna noch mal an.“ Sie nahm ihr Handy heraus und drückte die Tasten. „Mäuschen, geht es dir gut? ... Okay ... ich weiß auch nicht ... ja, wir sind schon unterwegs. Wir überlegen dann erst mal ... Bleib bitte vom Keller weg ... Geh doch vors Haus und warte dort auf uns ... Bis gleich. – Also nichts Neues“, sagte sie zu mir gewandt.
Ich nickte.
„Ich verstehe nicht, wie du so ruhig bleiben kannst“, sagte sie ungeduldig.
„Ich bin überhaupt nicht ruhig. Ich denke nur, dass es nicht nötig ist, jetzt schon die Polizei zu rufen.“
„Wieso ... Das kann doch nicht dein Ernst sein!“ Ihre Stimme überschlug sich vor Aufregung.
Ich konzentrierte mich einen Moment lang auf den Verkehr. „Evi, ich weiß so wenig wie du, wer das ist, aber ich könnte mir vorstellen, dass es jemand ist, den ich kenne.“
„Den du kennst? – Wer würde so etwas tun? Einfach ins Haus spazieren? Wie ist er überhaupt hineingekommen?“
„Vielleicht über den Garten. Wahrscheinlich war das Tor nicht abgeschlossen und Hanna hat die Terrassentür aufgelassen. Jedenfalls hätte sie einen Einbrecher doch sicher gehört. Ich glaube, der wollte einfach nur zu uns.“
„Sascha, du machst mich verrückt! Von wem sprichst du? Wer sitzt da in unserem Keller?“
Ich wollte Eveline nicht noch nervöser machen.
„Hör zu, ich vermute, dass es ein alter Freund ist. Ich meine ... ein Schulkamerad aus Frankfurter Zeiten. Ja, pass auf, kürzlich ist er mir nämlich in der Galerie Weinbrenner über den Weg gelaufen. Er heißt Frank. Ich habe ihn seit Ewigkeiten nicht gesehen. Wir haben kurz miteinander gesprochen, er hat sich sehr gefreut und ich habe ihm meine Visitenkarte gegeben. Er erzählte etwas von Schauspielerei, und da dachte ich an deine Theatergruppe und wollte ihm behilflich sein. Ich meine, ich habe nicht angenommen, dass er gleich zu uns nach Hause kommt.“
„Und du meinst, der könnte das sein? Aber wie kommt er dazu in unser Haus einzudringen, wenn wir nicht da sind?“
Darauf wusste ich nichts zu sagen.
Wir bogen bereits in den Albring ein und fuhren die kleine Auffahrt hoch.
Beim Aussteigen wurde mir wieder bewusst, wie schön unser Haus war, wie gut erhalten die alte Villa aussah, die weiß gekalkten Wände, der grüne Baldachin über dem Eingang, die mit Backsteinen eingefassten Fenster. Evelines Eltern hatten dreißig Jahre darin gewohnt, bevor sie in eine altersgerechte Parterrewohnung in der Innenstadt umzogen und uns das Haus überließen. Von der nahen Alb wehte eine frische Brise herüber und das konstante Rauschen des Wehrs klang vertraut.
Johanna stand ungeduldig vor der Haustür und schaute uns entgegen.
„Alles klar?“, fragte ich, während ich die Eingangsstufen hoch hastete.
„Johanna-Schätzchen, Papa wird schon alles regeln“, hörte ich Eveline hinter mir sagen.
Johannas Blick war vorwurfsvoll, wie ich im Vorbeigehen feststellte. Ich ging direkt auf die Kellertür zu und drehte den Schlüssel um.
„Wartet hier, ich bin gleich zurück.“
„Aber Papa, das ist doch gefährlich!“
„Glaube ich nicht. Nicht, wenn es Frank ist.“
„Frank? Was denn für ein Frank? Heißt das, du kennst ihn?“
Ich blinzelte ihr aufmunternd zu, zog die schwere Holztür auf und trat auf die Treppe.
Frank war nur irgendein Schulfreund. Ich hatte zu keinem meiner früheren Kameraden noch Kontakt. In der Galerie hatte er mit einer älteren Frau zusammengestanden, Frau Hauser, die häufiger auf Vernissagen ging und mit der ich hin und wieder ein paar Worte wechselte. Als ich Frank neben ihr sah, fiel er mir zuerst gar nicht auf. Aber er sprach mich an und sagte, wir würden uns kennen.
Normalerweise passierten mir solche Zufallsbegegnungen nicht. Es war eher so, dass mir bei kulturellen Veranstaltungen die üblichen Verdächtigen über den Weg liefen. Ich hatte keinen alten Schulfreund in all den Jahren je wieder getroffen. Die meisten waren sowieso in Frankfurt geblieben.
Noch seltener allerdings setzte sich ein alter Klassenkamerad ungebeten in den Keller unseres Hauses und wartete auf mein Kommen.
Wir hatten den Keller nicht umgestaltet, seit Evelines Eltern ausgezogen waren, so dass nach wie vor ein Eichentisch in der Mitte stand, um den ein paar schwere Stühle aufgereiht waren. Hinten gab es eine Eckbank. Es hingen auch einige alte Ölbilder an den Wänden.
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