„Grenze und Unbegrenztes
Ungerades und Gerades
Einheit und Vielheit
Rechtes und Linkes
Männliches und Weibliches
Ruhendes und Bewegtes
Gerades und Krummes
Licht und Finsternis
Gutes und Böses
gleichseitiges und ungleichseitiges Viereck“ 52
Jeder dieser Gegensätze könnte für sich selbst beleuchtet werden; in Zusammenhang mit der Geschlechterfrage springt aber vor allem die Gleichsetzung des Weiblichen mit ausdrücklich negativen Werten ins Auge. Deutlicher: Die Gegensatzreihe darf nicht symmetrisch gelesen werden; sie ist vom Ansatz her asymmetrisch, da nur eine Seite, die eine, rechte, lichte, gute, männliche Seite qua Definition (= Grenze) sich der Einsicht zuordnet. Über das Weibliche lässt sich nur noch ausgrenzend, deswegen aber nur noch im Unterschied zum Erkennbaren sprechen.
Damit wird die bisherige Verwiesenheit der beiden Hälften aufeinander nicht aufgegeben, aber sie wird neu bewertet, denn nunmehr richtet der Wert den Unwert, bestimmt ihn durch Bändigung. Mythisch ließ sich noch sagen:
„Der Reifen eines Rades wird gehalten von den Speichen,
aber das Leere zwischen ihnen ist das Sinnvolle beim Gebrauch.
Aus nassem Ton formt man Gefäße,
aber das Leere in ihnen ermöglicht das Füllen der Krüge.
Aus Holz zimmert man Türen und Fenster,
aber das Leere in ihnen macht das Haus bewohnbar.“ 53
Nun wird die Leere, das Unbestimmte, die Potenz von der männlichen Form her gelesen, gehalten, definiert. Nur vom Einen aus lässt sich über Vielheit reden, nur vom Guten aus das Böse aussondern. Der Mann wird zum Wirklichen, die Frau zum Möglichen, das vom Mann verwirklicht wird. Folge (oder Ursache?) dieses Denkens ist eine Zeugungstheorie, worin der Mann als Sämann, die Frau als Ackerfurche auftritt. „Ist die Erde dem Vermögen nach ein Mensch? Doch wohl nicht; vielmehr erst, wenn sie Same geworden ist. Was ist die Ursache im Sinne von Stoff? Etwa die Menstruation?“ 54Wenn es bei Parmenides (um 500 v. Chr.) noch heißt: „Auf der Rechten (der Gebärmutter lässt der Same entstehen) die Knaben, auf der linken die Mädchen“ 55, so ist bei Aristoteles diese räumliche Zuordnung bereits in eine hierarchische Ordnung umgewandelt. Seit daher bestimmt die klassische Philosophie den Mann als den einzigen Erzeuger des neuen Menschen, der im Übrigen wieder ein kleiner Mann ist und nur durch „widrige Umstände“ – so Aristoteles – beim Transport in das passive Gefäß der Frau zu einem Mädchen degeneriert. Bekanntlich folgt noch Thomas von Aquin der Vorstellung von der Frau als dem „Mangelhaften und Zufälligen“ 56, weil die Schwächung der wirkenden Kraft des männlichen Samens durch die mindere Materialität der Mutter verschuldet sei. Entsprechend sei der Vater ontologisch mehr zu lieben als die Mutter.
Zweifellos geht mit diesem Sinn für das „Richtige“ und Aktive auch das Durchsetzen des Vaterprinzips einher, das hier nicht in allen unerhört wichtigen Folgerungen geistesgeschichtlicher Art benannt werden kann; festgehalten sei nur, dass aus dem bisher richtungslosen Verquicktsein mit der Umwelt oder der Natur nun das Bewusstsein des Raumes durchbricht, der dimensional, also messbar gedacht wird. Raum ist nicht ohne Bewusstwerdung von Richtung zu denken. Bereits in dieser kleinen Beobachtung wird deutlich, zunächst unabhängig von der Geschlechterfrage, dass die mentale Struktur zunächst eine Befreiung aus dem Seelisch-Unentschiedenen, Unpersonalen, dem Kreislauf des Immergleichen darstellt. Noch in ihren so deutlich sichtbaren Ungleichheiten liegt die Größe des Durchbruchs in eine Welt der Einzigkeit und Unverwechselbarkeit, des Wissens gegenüber der bloßen Meinung, der Wahrheit gegenüber dem bloß Stimmigen, der Klarheit gegenüber dem Halbdunkel traumhafter Weltbeziehung. Freilich wird die Eindeutigkeit nur als Einseitigkeit durchgesetzt. Die Identifizierung von Recht und Mann bedeutet geschichtlich auch die Identifizierung von Rechtlosigkeit und Frau; alles Bewusste wird nunmehr auf Kosten des Unbewussten, des Unmessbaren gelebt. Auch die mütterliche, den Ahnen und den Toten zugewandte Vergangenheit wird nun auf das Zukünftige männlicher Ausrichtungen hin überholt. Der Mensch als Mann versteht sich verstärkt herkunftslos, autonom, nicht von der Mutter, sondern aus sich selbst begründet, als „Selbstdenker“.
Solche Formulierungen deuten ein Verhängnis an, das sich in der Spätzeit des mentalen Welt- und Selbstverhaltens deutlich ausprägt. Dennoch wird diese Entwicklung falsch eingeschätzt, ja, es ließe sich sagen, man werde ihrem Rechtsbewusstsein nicht gerecht, solange man die ursprüngliche Befreiung darin nicht als den eigentlich bewegenden Ansatz der Veränderung verstanden hat. Dies entbindet nicht von einer Kritik; sie müsste nur vor dem Hintergrund einer eindringlichen Kenntnis der gewonnenen gedanklichen Leistungen verantwortet werden.
Zu dieser Kritik hier ein Beitrag. In der „Gegensatzwelt“ herrscht grundsätzlich immerwährende Aufklärung mit dem Pathos immerwährenden Fortschritts, aufbauend auf dem gewonnenen Gedanken einer linearen Geschichtsentwicklung, deren Koordinaten der Mann festlegt. Ein Unterscheiden von Ursache und Folge, von Anfang und Ende ist eine Differenzierung, die zunächst hilfreich wird. Eine weitere ist die Entdeckung der Quantifizierung oder Messbarkeit aller Dinge, die aus einer numinosen Unverfügbarkeit in das Teilen und Herrschen des Mannes einrücken: Analyse als Basismethode der Wissenschaft. Über Platons Akademie stand bekanntlich der Satz: „Nur wer der Geometrie kundig ist, möge eintreten.“ Die alte Mutter Gaia wird hier dem Maß ihrer Söhne unterworfen; und nur wer in der Lage ist, die Göttinmutter messend zu behandeln, ist für das geforderte Denken frei. Insofern Wirklichkeit aber im Folgenden auf das Messende und Vermessene abgestellt wird, wird sie ihrer Qualitäten, des Nichtmessbaren beraubt, als Ganzes aus dem Auge verloren und nur noch sektorenhaft beherrscht. Mit dem Einsatz der Neuzeit verstärkt sich diese Richtung auch den Worten nach zu einer Inquisition; Francis Bacon, einer der „Väter“ der modernen Naturwissenschaft, sprach von der Folterbank, auf welcher der Natur im Experiment ihre Geheimnisse abzupressen wären. Galilei forderte ebenso programmatisch, alles messbar zu machen, was nicht messbar sei 57, und noch Kant sprach davon, man müsse die Natur zu einer Antwort „nötigen“.
Die Naturwissenschaft war damit endgültig in die Quantifizierung eingetreten – eine Entwicklung, die ungeheure Erfolge aufweist. Zu Beginn der „geometrischen Methode“ mit unwiderstehlicher Selbstverständlichkeit gehandhabt, ist es freilich verdächtig geworden, die Natur nur als „Gegenstand“, also als Widerstand zu nehmen, der zu überwinden, ja zu brechen sei. Dieses Verständnis hat sich in der Tat unerwartet auf den Menschen selbst ausgedehnt und damit die Fragwürdigkeit des rein messenden Verhaltens einsichtig gemacht. Je länger, je mehr sich das mathematisch-geometrische Denken durchsetzte, desto mehr wurde der Mensch im 17./18. Jahrhundert dem Regelkreislauf einer Maschine verglichen. Der französische Aufklärer La Mettrie sprach von l’homme machine (1748); literarischen Ausdruck fand die Menschmaschine, der nur das seelenvolle Auge fehle, in E. T. A. Hoffmanns Menschenpuppe Coppelia. Eine der Spielereien derselben Zeit war der Versuch, Automaten-Tiere und -Menschen herzustellen. Schließlich wurden auch die bisher ausgesparten psychischen Gegebenheiten des Menschen in die Zerlegung mit einbezogen. Kennzeichnend sind die noch primitiven Versuche der französischen Enzyklopädisten, auch seelische Gefühle als Maschinenreaktionen zu deuten. Anspruchsvoller wurde diese Denkrichtung im 19. Jahrhundert, wo die Humanwissenschaften (Historie, Psychologie, Anthropologie, Sprachwissenschaften) bewusst das Konzept der Naturwissenschaften nachvollzogen, die Regelabhängigkeit alles menschlichen Verhaltens und die Handlungsschemata des Individuums darzulegen; seelische Zwänge, gesellschaftliche, historische, ökonomische, erziehungsmäßige Abhängigkeiten wurden unleugbar und zunächst unentrinnbar. Das Wissen, das mit dem Charakter der Erhellung und Beherrschung der Natur begonnen hatte, endete mit der ausweglosen Fixierung des Denkenden auf das Gewusste.
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