Das hatte ihr der Georg nicht nur einmal erklärt. Die Mehrheit der Menschen wollte den Krieg nicht, behauptete er. Mochte sein, dass er was von der großen weiten Welt gesehen hatte, mochte sein, dass er wusste, dass Amerika in Wirklichkeit aus vielen Ländern bestand, und zwar aus sehr viel mehr und sehr viel größeren als unser kleines Europa, aber was den Krieg betraf, da täuschte er sich. Käthe wusste es besser und sie wusste es so gut, dass sie gleich wieder einmal einen Streit hätte anzetteln können. Sie hatte gehört, wie sie Hurra schrien und „endlich“ sagten, endlich dürfen wir zeigen, wie sehr wir unsere Heimat lieben, dürfen sie verteidigen mit diesen Händen, und wenn wir dabei draufgehen sollten. Wir wollen gerne Helden sein, wollen gerne, wenn es sein muss, sterben für unser Vaterland.
„Dieser Krieg ist ein Irrsinn! Was will der Kaiser denn? Mehr Land, mehr Einfluss, mehr Vermögen, mehr Macht?“
„Sie sagen, dass es nicht darum geht, sondern darum, uns gegen den Feind zu verteidigen.“
„Und wer soll das sein, der Feind?“
„Der Serbe, halt.“
„Der Serbe? Wenn schon, dann musst du die Serben sagen, denn das sind genauso Menschen wie wir, verschiedene Menschen, verstehst du, Käthe? Du bist doch sonst nicht auf deinen Kopf gefallen, ich hätte wirklich gerne, dass du manchmal nachdenkst, bevor du was sagst! Und weißt du denn, was die Serben uns getan haben, sagen wir mal dir und mir? Sind sie unsere Feinde? Nichts haben sie uns getan. Sie sind wie du und ich. Warum also sollen wir sie bekriegen? Weil irgendeiner von ihnen irgendwo dort unten einen österreichischen Prinzen und seine Frau getötet hat, sollen wir hier unsere Köpfe hinhalten? Stell dir mal vor, jetzt geht es auch noch gegen die Franzosen, weil die sich mit den sogenannten Feinden verbündet haben, und dann auch noch gegen die Engländer und die Russen. Und welche Franzosen, und welche Engländer sind das denn?“
Käthe wusste schon, was Georg als nächstes Argument ins Feld führen würde. Der eigentliche Feind für den Kaiser und die Seinen in diesem Krieg, das war die europäische Kultur. Das waren diejenigen, die wissen, wie man lebt, richtig lebt, wie man diniert, was man trinkt, wie man eine edle Virginia raucht, wie man ein Champagnerglas hält, wie man sich beim Klang des Pianos lächelnd einer Dame zuwendet, ihr tief in die Augen sieht, ihren Liebreiz lobt, nicht allgemein, sondern zum Beispiel die Augen im Besonderen oder die Lippen oder die kleinen Ohren, die unter den gekringelten Löckchen hervorschauen, wie man sie schließlich verführt, wie man mit dem Zucken der Braue, der rechten oder der linken, dem Kellner ein Zeichen gibt, wenn man einen Wunsch hat und ihn äußern möchte. Er wusste Bescheid darüber. Aus eigener Anschauung konnte er die Kultivierten von den Banausen unterscheiden. Kultur kannte keine Nationalität, sie war eine Nation in sich.
Diese Spitzfindigkeiten gingen Käthe zu weit. Sie fürchtete sich auch davor, dass Georg sich mit solchen Reden um Kopf und Kragen brachte. Was wollte er damit erreichen? Ein eigenes Hotel, ein Haus mit Klasse, in dem alles flutschte wie geschmiert. Gute Küche sollte sich verbinden mit perfektem Service, sodass diejenigen abstiegen, die er kannte von den Kreuzfahrtschiffen und den Seebädern, in denen er sich hochgedient hatte. So ein Haus zu formen und zu führen und sein eigen zu nennen, das wollte er.
„Und du machst dann den Grand-Cru-Cri, dein Schaumsoufflé, das du für die kleine Fürstenberg bei ihrer Verlobung kreiert hast, Käthchen, und noch andere solche Wunder, und du scheuchst die zwei oder drei Kaltmamsellen, die wir haben, vor dir her und ziehst nebenbei noch den Piccolo am Lift an den Ohren, wenn er seine Augen nicht unter Kontrolle hat, seine Schuhe nicht poliert sind, und ich lege die Speisenfolgen fest und der Oberkellner schlägt die Haken zusammen, wenn er am Getrappel meiner Schritte hört, dass ich mich nähere ...“
Der Georg war ein Phantast, er war größenwahnsinnig, jedenfalls ein Pragmatiker war er nicht. Deshalb hatte er sich wahrscheinlich auch dazu entschieden, sie zu seiner „besseren Hälfte“ zu machen und nicht die kleine Geraldine. Die machte ihm nämlich auch schöne Augen. Eine herrliche Sarah-Bernard-Eisbombe konnte sie zubereiten, mit Baiser-Splitter und Haselnusskrokanthagel verziert. Käthe hatte sie wirklich beneidet darum. Aber Geraldine kam immer zu spät und oft wurde sie nicht fertig mit dem, was sie vorhatte. Sie schmiss lieber alles hin und schrie dann hysterisch, kein Dessert heute, nur Kaffee und drei Tage alte Nussbissen, weil das Geplante nicht geklappt hatte. Alles oder nichts. Das war ihre Devise. Darin glich sie Georg. Käthe hatte das manchmal gespürt, wenn sie sich freitagabends im Dienstzimmer trafen und die Arrangements des Fürstenberg’schen Haushaltes besprachen, in jenem Frühling 1913, in dem Georg als erster Diener dort engagiert war. Solche Kapricen konnte sie sich nicht leisten. Sie war ein Pflichtenmensch, ein Arbeitstier, keine Diva.
4
Käthe war zufrieden mit ihrem Platz in der Welt. Als sie mit sechszehn Jahren, gerade war ihre Mutter nur zwei Jahre nach dem Vater an einer schweren Lungenentzündung gestorben, in der Fürstenberg’schen Küche auf Vermittlung einer entfernten Verwandten hin als Küchenhilfe eingestellt wurde, erfüllte sie das mit Stolz. Sie wurde beobachtet von der Köchin. Vier Jahre später bat sie darum, während der sommerlichen Abwesenheit der Fürstenfamilie – man verbrachte mehrere Monate an der Ostsee, um sich dort mit seinesgleichen zu treffen und vermischen – im Hotel Post eine Ausbildung zur Kaltmamsell mitzumachen, sieben Wochen und eine Prüfung, davon hatte sie reden hören, denn ihre Ohren hielt sie immer offen. Ihre Begabung für Desserts und Torten hatte nicht nur die Köchin entdeckt – so gewährte man ihr diese Bitte gern. Ihre Strebsamkeit, ihr Sinn für Ordnung, für das rechte Maß und ihre Courage im Umgang mit den Lieferanten, all das zeichnete sie aus als jemanden, von dem noch mehr zu erwarten wäre. Sie kam zurück mit einer Urkunde im Gepäck und voller Heimweh nach dem Fürstenberg’schen Haushalt und fand dort Geraldine und auch den neuen Diener Georg. Staunend beobachtete sie das ständige Geplänkel zwischen den beiden. Bald schon aber mischte sie sich ein, wenn Geraldine alles hinschmiss, nahm wortlos den Topf und den Schneebesen und rührte die Creme weiter, dekorierte sie mit karamellisierten Mandeln und einigen mit aufgeschlitzten Vanillestangen blanchierten Apfelschnitzen, sodass doch noch was daraus wurde, was man servieren konnte. Nach einem dieser Geraldine-Gewitter bemerkte sie zum ersten Mal, dass Georgs Blick länger auf ihr ruhte als sonst. So lange nämlich, bis sich ihre Augen trafen, bis sie ihm mit einem Lächeln zeigte, dass ihr das gefiel, seine Aufmerksamkeit, dieses bisschen „Oho, so eine ist das“, das sie darin vermutete, zu Recht, wie sich bald herausstellte, denn er suchte immer öfter ihre Nähe. Stellte sich neben sie, draußen hinterm Haus, mit seiner Zigarette in der Hand. Stützte ein Bein hinterrücks an die Hauswand und hob das Kinn, wenn er den Rauch ausstieß. Räusperte sich, begann dann eine belanglose Unterhaltung und schließlich stellte er ihr auch die ersten Fragen. Wo kam sie her? Aus Deggendorf? Da war sie also eine Bayerin? Man hörte es kaum, vielleicht nur an ihrem gerollten „r“. Er kam aus Altenheim bei Lahr. Und so weiter und so weiter.
Am Tag als sie entlassen wurden, weil sich die Herrschaften für längere Zeit nach Afrika begeben wollten und das Haus leer stehen würde, kein Küchenpersonal, kaum Dienerschaft würde gebraucht in dieser Zeit, nahm er ihre beiden Hände und sah sie mit weit aufgerissenen Augen ernst an: „Geh mit mir Käthe. Ich hab’ was in München, im Hotel Continental. Vielleicht da oder ... München ist eine Riesenstadt, da gib es viele andere Möglichkeiten, da findest du was. Geh mit mir. Wenn wir es schaffen, dann ...“
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