Peter Giesecke
Entführung in eine bessere Zukunft
Scratch Verlag
e-book 088
Erscheinungstermin: 01.01.2021
© Scratch Verlag
Erik Schreiber
An der Laut 14
64404 Bickenbach
Info@saphir-im-stahl.de
www.scratch-verlag.de
Titelbild: archiv andromeda
Vertrieb: bookwire
ISBN: 978-3-940928-31-3
Peter Giesecke
Entführung in eine bessere Zukunft
Die stetig lauter werdende Melodie seines Weckers war schlicht störend. Er hatte die Nacht kaum geschlafen, zum einen, weil die Klimaanlage zu laut war, aber vor allem, weil er wieder einmal ein Problem zu lösen hatte. Er stand unter hohem Zeitdruck. Wenn er innerhalb der nächsten zwei Tage keine Lösung finden würde, würde dies den Gewinn an seinem Projekt empfindlich schmälern.
Als er endlich eingeschlafen war, hatte er geträumt: Er schwebte über einer Grube, die fast bis zum Rand mit langen, dünnen Schlangen gefüllt war. Keine besonders angenehme Situation, aber mit einiger Mühe gelang es ihm, den Schwebezustand beizubehalten. So sehr er sich auch bemühte, den Anblick zu vermeiden, musste er doch immer wieder und wieder hinunterstarren, irgendetwas hielt ihn gefangen. Es war ein sehr unwirklicher Zustand, typisch für Träume dieser Art. Der Schwebezustand blieb auch in der Aufwachphase noch eine kurze Weile erhalten, der Geist war noch nicht durch irgendwelche, hinderliche Naturgesetze eingeschränkt, aber die Wirklichkeit, und damit auch sein Problem, nahmen langsam wieder von ihm Besitz. Bei der Abnahme seines Windkanals wurde eine Zeitmessung um das doppelte überschritten, ein willkommener Grund für seinen Kunden, einen deutlichen Preisnachlass zu fordern.
Der Gedanke kam wie ein Blitz, die Lösung lag nun klar vor ihm. Es war nicht das erste Mal, dass er mit dieser Methode die Lösung eines dringenden Problems gefunden hatte. Einzige Voraussetzung war, dass man von dem Problem wirklich durchdrungen war und ständig darüber nachdachte. Irgendwann nahm man es dann mit in seine Träume, wo es ungestört von irgendwelchen Beschränkungen vom Unterbewusstsein betrachtet und analysiert wurde. Und die Aufwachphase, dieser kurze magische Zustand zwischen Traum und Realität, war der Moment, wo die Lösung dekodiert wurde. Die Schlangen symbolisierten eine Vielzahl von Schläuchen, die zur Übertragung von Drucksignalen zu den nachgeschalteten Sensoren dienten. Die Signale kamen von der Oberfläche eines Flugzeugflügels, der mit über Tausend kleinen Löchern versehen war und dessen Druckprofil im Windkanal untersucht wurde.
Und er war als Projektleiter verantwortlich für das gesamte Windkanalprojekt. Er war mit einem Schlag hellwach und konnte es kaum abwarten, den Gedanken zu überprüfen. Er ging in den Frühstücksraum des Gästehauses, wo sein Obermonteur schon auf ihn wartete und herzlich begrüßte: „Hallo Jörg, auch schon ausgeschlafen?“
Jörg antwortete ebenso gut gelaunt: „Na ja, sagen wir, aufgehört zu schlafen.“
Sein Obermonteur war ein Hüne mit fast zwei Metern Größe, eine durchsetzungsstarke Persönlichkeit mit bestimmtem Auftreten. Neben ihm sah Dr. Jörg Breithaupt trotz seiner über einundachtzig Metern fast kleinwüchsig aus. Er war eine Person mit angenehmer Erscheinung, mit seinen vierzig Jahren hatte er sich sehr gut erhalten. In seiner Stammfirma in Darmstadt war er Leiter einer Spezialabteilung für Sondermess- und Prüfmaschinen. Er hatte einen sehr jovialen Führungsstiel, der vom Vorstand seiner Firma missbilligt wurde. Ihm war das egal, er hatte sowieso nicht vor, weiter aufzusteigen. Seine jetzige Position empfand er als Traumjob, er war neugierig auf andere Kulturen und hatte die Freiheit zu bestimmen, welche Projekte er persönlich begleitete. Er hatte einen kompetenten Stellvertreter, dem er blind vertraute.
Sein Obermonteur war neugierig. „Hast du nochmal nachgerechnet, warum die Signallaufzeit zu lang ist?“
Jetzt konnte Bernd seinen Verdacht loswerden: „Ich habe es in den letzten Tagen zig Mal nachgeprüft und komme immer zu demselben Ergebnis. Einen Rechenfehler schließe ich hundertprozentig aus. Ich habe aber einen Verdacht, und du kannst ihn vielleicht bestätigen.“ Der Obermonteur blickte neugierig.
„Erinnerst du dich noch, wie ihr die Druckschläuche montiert habt?“
Der richtete sich auf. „Na klar, wir waren zu zweit und fast zwei Tage beschäftigt. War ziemlich langweilig, für jeden der tausend Schläuche die gleiche Prozedur.“
Jörg drehte sich zum Windkanal um. „Okay, dann schauen wir uns das Ergebnis mal gemeinsam an.“
Der Obermonteur zuckte die Schultern und sie gingen zur Messkabine. Jörg entfernte die Abdeckung zum Kabelschacht und fand seine Vermutung bestätigt, die Messschläuche waren der Länge nach in Schlaufen gelegt. Er musste laut lachen, war er doch das Opfer seiner eigenen Vorsichtsmaßnahme geworden. Es gibt auf Baustellen dieser Art gewisse Klauquoten, abhängig von der Art der Objekte und dem Land, beispielsweise waren in Schwellenländern kleine Schrauben und Elektrokabel besonders gefragt. Jörg hatte also sicherheitshalber die doppelte Länge an Messschläuchen angefordert, aber dummerweise hatten die keinen interessiert. Und Monteure stellen nun mal im Zweifelsfall keine ihrer Ansicht nach überflüssigen Fragen und so verarbeiteten sie dummerweise die komplette Länge, und dies führte logischerweise zur Verdoppelung der Signallaufzeit. Murphy hatte wieder einmal zugeschlagen.
„Hey, Mr. Noproblem, was macht ihr da in unserem Kabelschacht?“ Der Fragesteller war der künftige Betriebsleiter des Windkanals, ein immer gut gelaunter, etwas wohlbeleibter Typ, der ausgezeichnet Englisch sprach.
Bernd mochte diesen Typ, er antwortete enthusiastisch: „Hallo, Mr. Bam, sie haben mich erschreckt, aber ich habe gute Nachrichten, unser Problem ist gelöst, alles was wir brauchen, ist eine Schere.“
Jörg Breithaupt war erleichtert, die Abnahme seines Windkanals war nahezu abgeschlossen, kleinere notwendige Nachbesserungen waren für seine Monteure kein Problem und stellten keinen großen Kostenfaktor mehr dar. Er übte diese Tätigkeit bereits seit fünfzehn Jahren aus, und sie hat ihn zu allen Ecken der Welt gebracht. Er war berechtigt, Businessklasse zu fliegen, und manchmal wechselte er auch zu Economy und nahm dann seinen Sohn mit. Das Geld stimmte und von der großzügigen Reisekostenerstattung konnte er sich bequem einen Urlaub leisten, den er dann nach erfolgter Abwicklung direkt vor Ort antrat. Er war durch seine häufigen Aufenthalte in Südostasien vom Buddhismus fasziniert und wollte diesmal wieder einmal nach Bali, er hatte sich dort für zwei Wochen in einem Tempel angemeldet, um abzuschalten und zu meditieren. Jörg erinnerte sich an seinen ersten Aufenthalt. Kaum hatte er damals den Flughafen von Denpasar verlassen, nahm ihn die einzigartige Atmosphäre von Bali gefangen. Der Gegensatz zu Java und insbesondere zu Jakarta mit seinen Straßenschluchten und hektischen Verkehr war enorm. An seinem ersten Wochenende übernachtete er im Nusa Dua Beach Hotel. Nauroth hatte es für ihn gebucht. Nauroth war der örtliche Repräsentant seiner Firma für den südasiatischen Raum.
Nauroth ermunterte ihn: „Gönn dir mal was ganz Besonderes, es ist das beste Hotel auf Bali, hier haben schon viele bekannte Persönlichkeiten Urlaub gemacht, Ronald Reagen sogar einige Male.“
Jörg hatte damals nur gelacht: „Und du denkst, ich könnte mich da lückenlos einreihen.“
Die Anlage war wirklich mehr als nur luxuriös, sie war verschwenderisch. Jörg hatte mit Erstaunen beobachtet, wie, nachdem er das Zimmer für eine kurze Pause verlassen hatte, ein Page hineinstürzte, um sein Bett wieder glattzuziehen. Er beschloss damals, vor dem Luxus zu fliehen, mietete sich ein Motorrad und fuhr ins Land. Der Tempel, auf den er traf, faszinierte ihn durch seine Schönheit und die Gelassenheit seiner Mönche. Er hatte damals beschlossen, sein nächstes Wochenende in genau diesem Tempel zu verbringen.
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