Dieses Wochenende war für ihn prägend, er hatte sich mit einem Priester angefreundet, der ausgesprochen gut Englisch sprach und ihn in die Rituale des Tempels einführte. Er musste für die Übernachtung nicht bezahlen, als Gegenleistung wurde von ihm erwartet, dass er die Wege fegte und im Garten mithalf. Sein Englisch sprechender Freund hatte sich als eine außerordentliche Persönlichkeit herausgestellt. Er war ein reiner Buddhist, im Gegensatz zu der in Bali vorherrschenden Mischung von Hinduismus und Buddhismus. Sein neuer Freund hatte in Japan studiert und auch promoviert. Ein Angebot für eine Professur hatte er abgelehnt.
Bernd war neugierig. „Warum hast du das Angebot nicht angenommen?“
Der Mönch antwortete ohne zu zögern. „Ich spüre im Innersten, was es heißt, ein wirklicher Buddhist zu sein, und möchte auch so leben. Deshalb bin ich jetzt hier.“
Jörg erinnerte sich, mit welcher Überzeugung er dies geäußert hatte, jetzt war er begierig, mehr über diese Philosophie zu erfahren. Der Flieger nach Denpasar ging in drei Stunden, er rief seinen Chauffeur. Der bemerkte bedauernd: „Tut mir leid, der Wagen springt nicht an, ich warte auf Hilfe.“
Jörg war es auch recht. „Macht nichts, ich nehme ein Taxi.“
Es war ein schrecklicher Albtraum, das Röhren des Helikopters schallte in seinen Ohren und sein ganzer Körper schmerzte. Er war im Taxi auf dem Weg zum Flughafen gewesen, als sein Fahrer plötzlich anhielt und zwei weitere Männer zustiegen. Er wollte protestieren, aber dann hatten sie ihm auch schon etwas aufs Gesicht gedrückt, er hatte Angst zu ersticken, dann verlor er das Bewusstsein. Er wollte sich endlich von diesem Albtraum befreien und versuchte mit aller Anstrengung aufzuwachen. Das Dröhnen hielt an und die Schmerzen nahmen noch zu. Er versuchte, sich zu bewegen, und bemerkte, dass ihn etwas daran hinderte. Seine Arme waren auf den Rücken gebunden und seine Füße ebenfalls gefesselt. Er bekam es mit der Angst zu tun, dass dies vielleicht sogar die Wirklichkeit sein könnte, und er versuchte schnell wieder einzuschlafen. Doch dann kamen zu dem Geräusch und den Schmerzen noch etwas anderes hinzu, ein unangenehmer Gestank nach Öl, Kerosin und Abgasen, und ihm wurde immer bewusster, dies ist kein Albtraum. Er konnte nichts sehen, seine Augen waren verbunden. Panik überfiel ihn, panische Angst vor dem, was mit ihm passieren würde. Er hatte unzählige ähnliche Szenen in Filmen erlebt und mit den Akteuren mitgezittert, aber dies war etwas völlig anderes.
Er versuchte, klar und analytisch zu denken, aber es gelang ihm nicht. Sobald er einen Gedanken gefasst hatte, kam auch schon der nächste, sein Bewusstsein drehte sich wie ein Karussell. Dann endlich konnte er einen produktiven Gedanken festhalten. Er erinnerte sich an seinen Freund aus dem balinesischen Tempel, der ihm gelehrt hatte, durch langes Luftanhalten zur inneren Ruhe zu kommen. Er atmete so tief wie möglich ein, bekam aber auf Grund des Gestanks sofort einen heftigen Hustenanfall. Er versuchte es noch einmal mit einem weniger tiefen Zug und tatsächlich gelang es ihm zumindest einen kurzen Zeitraum, den Atem anzuhalten. Endlich kamen seine Gedanken etwas zur Ruhe, er hatte jetzt zumindest den Willen, darüber nachzudenken, was er tun könnte. Eigentlich nichts, er war gefesselt und konnte nichts sehen.
Wichtig war zunächst, etwas über die gegenwärtige Situation herauszufinden. Und die war offenbar anders als in seinem Albtraum. Dies war kein Helikopter, das Geräusch hatte zwar eine entfernte Ähnlichkeit, aber er bemerkte ein spürbares hin- und herschwanken, dies war offenbar ein Boot oder ein Schiff, wobei die schnellen Bewegungen mehr auf ein größeres Boot hindeuteten. Das ohrenbetäubende Motorgeräusch und der Gestank ließen ihn vermuten, dass er offenbar im Maschinenraum untergebracht war. Er überlegte, irgendwie die Zeit zu messen, um eine Idee über die zurückgelegte Distanz zu gewinnen, verwarf den Gedanken aber wieder, weil er sowieso nicht wusste, wie lange er schon unterwegs war. Er wartete auf ein mögliches akustisches Signal eines anderen Schiffes, dies würde zumindest auf eine befahrene Schifffahrtsroute hinweisen, aber da kam nichts. Er fiel wieder in Panik, er war hilflos und noch immer ohne jede Information über seine Position oder das Fahrtziel. Er änderte die Strategie und versuchte völlig abzuschalten, sich dem Geschehen willenlos auszuliefern, egal, was da käme. Es gelang ihm, wieder vor sich hinzudämmern, und wären da nicht die Schmerzen, wäre er vielleicht sogar eingeschlafen. Plötzlich wurde das Motorgeräusch deutlich leiser und ging in ein langsames Tuckern über, dann wurde es mit einem Schlag still. Ihm dröhnten noch die Ohren und im ersten Moment hatte er das Gefühl, seine Hörfähigkeit verloren zu haben. Er spürte das Schwanken des Bootes, sonst geschah nichts. Dann hörte er plötzlich Stimmen, eine aus etwas Entfernung und eine unmittelbar über ihm. Soweit er es beurteilen konnte, sprachen sie einen arabischen Dialekt, aber er war sich nicht sicher. Dann knarrte es, offenbar wurde eine Luke oder Tür aufgestoßen. Zwei Männer packten ihn an der Schulter und zogen ihn nach oben. Sie nahmen ihm jetzt die Binde ab und er konnte ihre Gesichter sehen. Es waren wild aussehende junge Kerle, vielleicht noch nicht einmal zwanzig. Sie betrachteten ihn mit einem ausdruckslosen Blick, der ihn beunruhigte. Es wäre ihm lieber gewesen, sie hätten ihre Gesichter verborgen, als Zeichen, dass er sie später nicht wiedererkennen sollte, aber das war ihnen offenbar egal. Sie lösten seine Fußfesseln und bedeuteten ihm, aufzustehen. Als ihm das nicht gleich gelang, zogen sie ihn brutal hoch und schoben ihn vor sich her vom Boot herunter.
Der Weg führte vom Strand weg direkt in den Dschungel. Es gab keinen richtigen Weg, aber der Abstand zwischen den Bäumen war genügend groß, um ein unbehindertes Gehen zu ermöglichen. Er war jetzt hellwach und hoch konzentriert. Er merkte sich den Stand der Sonne, um eine Information über die Wegrichtung zu gewinnen. Die Sonne stand auf halber Höhe, er konnte noch nicht erkennen, ob es noch vormittags oder schon Nachmittag war, aber das war nur eine Frage der Zeit. Sie hatten die Sonne im Rücken, der Schatten fiel ziemlich genau um fünfundvierzig Grad nach rechts. Er bemühte sich, mit gewohnter Schrittlänge zu gehen und zählte die Schritte. Dies tat er im Achtertakt: hu-hu-hun-dert eins-eins-eins-eins, hu-hu-hun-dert ein-undzwanzig …
Bei hundertfünfundzwanzig angekommen, ergab das somit tausend Schritte. Die Richtung wechselte einige Male, wenn ein Sumpf oder ein kleines Gewässer im Weg war, er merkte sich auch die Schrittzahl an diesen Wendepunkten. Zum Glück war die Gesamtrichtung aber ziemlich konstant, er würde später ohne Mühe zurückfinden, vorausgesetzt, die Sonne schien. Die war inzwischen auf einem tieferen Stand, also war es Nachmittag, etwa drei bis vier Uhr. Während des ganzen Weges sprachen die Entführer kein einziges Wort, was die Situation noch unwirklicher machte. Aber es war Wirklichkeit. Nach einem Fußmarsch von etwa zweieinhalb Kilometern, dessen Weg er über seine geschätzte Schrittlänge errechnet hatte, gelangten sie auf eine Lichtung. Es war keine natürliche Lichtung, man sah deutlich die Spuren früherer Bäume. In der Mitte der Lichtung war ein fensterloses Gebäude mit einer Größe von etwa fünf Mal acht Meter. Die Tür stand offen. Seine Begleiter stießen ihn ohne irgendeinen Kommentar hinein und verschwanden. Er war überrascht und erleichtert zugleich, er war nicht allein. Die Bewohner waren genau so überrascht wie er. Sie betrachteten ihn abschätzend, offenbar waren sie im Zweifel, ob er Freund oder Feind war.
Ein Mann mittleren Alters brach schließlich das Schweigen: „Willkommen in unserer Runde, mein Name ist Ben Miller, ich komme aus Oklahoma. Verraten Sie uns bitte, wer Sie sind.“
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