Vor der Sicherheitskontrolle am Flughafen gehe ich auf die Toilette und nehme die Brustprothese ab. Einmal hatte ich das vergessen, und prompt fing der Metalldetektor bei der Durchsuchung an zu piepen, als der Sicherheitsbeamte mit dem Scanner über meinen Oberkörper fuhr. Ich war fest davon überzeugt, dass etwas am BH den Alarm ausgelöst hatte, und erwartete schon, für eine Leibesvisitation in einen Nebenraum geführt zu werden – und höchstwahrscheinlich hätte die Ausrede, die Brustprothese sei für meine Frau, nicht wirklich überzeugt. Meine Angst war spürbar, aber wie sich herausstellte, hatte der Detektor auf einen Reißverschluss an meiner Jacke reagiert. Danach war ich viel vorsichtiger.
In meiner Lage ist es immer besser, für alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.
Nun packe ich erst einmal aus und lege die Sachen, die ich gleich anziehen will, aufs Bett. Da ich bei meinem Ritual nicht gerne Experimente mache, wähle ich fast immer dieselben Sachen aus. Beispielsweise ein schwarzes Kleid mit Spaghettiträgern, das bis kurz übers Knie geht, denn eins weiß ich – mit meinen Beinen kann ich punkten. Sie waren schon immer schlank, was zu Zeiten meiner sportlichen Erfolge viele verblüfft hat. Damals sagte ich immer: „Die Beine sind zum Laufen, nicht zum Zeigen da.“ Heute ist es genau umgekehrt, heute zeige ich meine Beine gern her. Ganz im Gegensatz zu meinen Armen: Die soll besser niemand sehen, und deswegen gehört auch immer eine schwarze Jacke zum Ensemble.
Die Kleider habe ich aus Kris‘ Schrank stibitzt, denn sie verfügt über eine enorm umfangreiche Garderobe, und ich kann mir nicht vorstellen, dass es ihr auffällt, wenn etwas fehlt. (Als sie irgendwann doch merkte, dass ich mir schon seit Jahren das eine oder andere von ihr „geliehen“ hatte, waren die Sachen so ausgeleiert, dass sie ohnehin nichts mehr davon wiederhaben wollte.)
Das ist mein Ausgeh-Outfit, hübsch, aber nicht zu formell. Dazu gehören noch schwarze Schuhe, denn wie wir alle wissen, macht schwarz ja schlank. Make-up habe ich nicht nur von Kris, sondern auch vom Rest der K-Truppe geklaut – Kourtney, Kim und Khloé, schließlich auch von Kendall und Kylie. In unserem Haus gibt es schließlich mehr Schminkzeug pro Bewohner als irgendwo sonst in der ganzen Geschichte der Menschheit. Wer jemals eine Folge von Keeping Up With The Kardashians gesehen hat, der hat das wahrscheinlich auch schon festgestellt.
Das Auftragen des Make-ups ist immer wieder ein Kampf. Manchmal habe ich das Gefühl, dabei einer größeren Herausforderung gegenüberzustehen als bei meinem Olympiasieg. Zwar habe ich es inzwischen etwas besser drauf, aber das Resultat ist immer noch etwas Glückssache. Früher habe ich insgeheim Bücher mit Schminktipps gekauft, da es niemanden gab, der es mir hätte zeigen können. Die Bücher befinden sich, genau wie meine eigene schmale Sammlung an Kleidungsstücken, in einem kleinen, sorgfältig abgeschlossenen Fach in meinem Kleiderschrank. Darauf hat Kris bestanden, denn sie hat eine fürchterliche Angst davor, dass Kendall und Kylie die Sachen finden und etwas merken. Ich übrigens auch.
Einmal wäre das fast passiert. Unsere Töchter hatten sich wegen irgendwelchen Kleidern gestritten, die eine der anderen angeblich geklaut hatte, wobei ich jetzt nicht mehr weiß, wer die Detektivin und wer die vermeintliche Diebin war. Jedenfalls hatte die mutmaßlich Bestohlene insgeheim die Kamera an ihrem Computer eingeschaltet, um ihr Zimmer zu überwachen. Wenig später wähnte ich mich allein im Haus und wollte die Gelegenheit nutzen, um mich aufzustylen. Da es in Kylies Zimmer einen hohen Spiegel gab, schlich ich mich dort hinein, um mein Outfit zu begutachten. Ich ahnte nichts Böses, bis ich später hörte, wie unsere Töchter zu Kris rannten und kreischten: Oh mein Gott, was ist denn das da auf dem Bildschirm?
Glücklicherweise waren sie zu jung, um das zu begreifen. Heute klingt es lustig. Es ist auch lustig. Nur damals war es das eben nicht. Es war mir unglaublich peinlich. Ich wollte nicht, dass die Kinder mitbekamen, dass ich Frauenkleider anzog. Ich wollte sie nicht verwirren, sie verletzen oder ihnen wehtun. Wie hätten sie damit zurechtkommen können, wo doch nicht einmal ich selbst wusste, wie ich damit umgehen sollte? Diese Geschichte war symptomatisch für das Lügengebilde, das ich um mich herum aufgebaut hatte: Nie war ich mit mir im Einklang, in mir herrschte ein totales Durcheinander.
Die Episode geriet bald in Vergessenheit. Aber ich hatte eine wertvolle Lektion gelernt: Wenn die Frau in dir sich im Kinderzimmer vor den Spiegel stellt, sollte sie sichergehen, dass der Computer ausgeschaltet ist.
Aber zurück zu meiner Verwandlung. Die Augen sind am Wichtigsten, denn sie sind schließlich das Fenster zur Seele. Wenn man die Augen richtig hinbekommt, klappt es mit dem Rest von selbst. Und dieses Mal sieht es richtig gut aus; ganz offensichtlich werde ich jedes Mal besser. Manchmal werde ich in solchen Situationen aber auch übermütig, und dann sitze ich da, der größte Athlet der Welt, und versuche mir mit zitternden Händen falsche Wimpern anzukleben, was dann aber nur dazu führt, dass ich irgendwann überall schwarzen Kleber auf den Lidern habe.
Schließlich betrachte ich mich im großen Spiegel des Hotelzimmers. Ich gehe ein paarmal auf und ab und prüfe kritisch, ob ich wirklich eine passable Frau abgebe. Von Kris habe ich mir auch eine kleine Handtasche „geborgt“ – was inzwischen etwas schwieriger ist, da sie besser aufpasst als früher.
Dann bin ich fertig und verlasse das Zimmer. Normalerweise nehme ich lieber die Treppe, weil ich vermeiden möchte, anderen Hotelgästen im Fahrstuhl auf engem Raum gegenüberzustehen. Aber meine Suite liegt in einem der oberen Stockwerke, und ich möchte nicht, dass mein sorgfältiges Styling schon gelitten hat, wenn ich unten ankomme. Also doch der Fahrstuhl. Ich sage kein Wort, denn meine helle Männerstimme, mein Singsang und mein Akzent – eine Mischung aus Mittelwesten und Massachusetts – würden mich sofort verraten; nach all der Zeit bin ich der Öffentlichkeit zu gut bekannt. Also wende ich den anderen Leuten den Rücken zu, mache ein bisschen auf arrogante Zicke und gehe leicht in die Knie, damit ich nicht ganz so groß wirke.
Unten verlasse ich den Fahrstuhl und spaziere zwanzig Minuten in der Lobby herum. Bedenkt man, dass ich bestimmt eine Stunde gebraucht habe, um mich zu stylen, klingt das nach einer wenig lohnenden Bilanz. Aber für mich ist es aufregend, und manchmal frage ich mich, ob die wahre Motivation dahinter ist, dass mein Leben ansonsten keine echten Kicks mehr bietet (es sei denn, dass man eine Runde Golf gegen sich selbst als aufregend bezeichnen wollte, und das wäre nach meiner Erfahrung wirklich übertrieben). Das Leben mit den Kardashian-Frauen und mit Kendall und Kylie hat natürlich viele Höhepunkte, sicher. Sie sind alle faszinierend, und tatsächlich wird schon bald Keeping Up With The Kardashians viele Millionen Zuschauer vor die Fernsehschirme locken. Meine eigene Rolle in dieser Reality-Show ist die eines gutmütigen, aber etwas tapsigen Patriarchen, der kein eigenes Leben hat, von den Frauen um ihn herum komplett dominiert wird und nur das tut, was seine Gattin ihm sagt.
Eine völlig wahrheitsgetreue Darstellung also.
Nach einer langen Runde durch die Lobby drehe ich mich um und kehre in mein Zimmer zurück. Ich halte mich nirgendwo lange auf. Bleibe nie stehen. Gehe nie ins Restaurant. Stattdessen bleibe ich lieber in den Winkeln und Ecken, und ich vermeide möglichst jeglichen Augenkontakt, weil mir genau bewusst ist, dass ich ausgecheckt werde. Schließlich weiß ich nur zu gut, wie das aussieht; Bruce Jenner ist schon viele tausend Male ausgecheckt worden.
Aber jetzt gibt es einen anderen Grund für die Blicke. Vor einer Entdeckung habe ich keine Angst, denn selbst wenn jemand meinte, er hätte Bruce Jenner in einem Kleid gesehen (was ja stimmt), dann würde er das vermutlich selbst nicht glauben, jedenfalls nicht, falls er zu denen gehört, die sich noch an die Olympiade damals erinnern. Bruce Jenner ist einfach der letzte, dem man so etwas zutrauen würde. Mich kümmert nur eins: ob ich glaubwürdig aussehe. Das erkenne ich an der Länge der Blicke, die man mir zuwirft. Ein kurzer heißt: Nichts Besonderes, eine Frau wie alle anderen. Hinter einem längeren könnte eine fatale Überlegung stehen: Wer zur Hölle ist das denn? Manchmal finde ich, dass ich verdammt gut aussehe. Manchmal fühle ich mich aber auch wie eine dünne Ausgabe von Bibo aus der Sesamstraße, der überall heraussticht und über den alle kichern, wenn er vorübergeht. Altwerden hat ja wenig gute Seiten, aber eine gibt es: Man schrumpft ein bisschen. Wenn ich hundert werde, dann bin ich vielleicht nur noch einssiebzig und werde mich nicht mehr so schrecklich gehemmt fühlen.
Читать дальше