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Inmitten dieses Aufruhrs verrichtete Richard Penniman allerdings wieder den Abwasch am Busbahnhof, beobachtete Reisende und schrieb Songs in der Küche, älter nunmehr und ein wenig verlebter, aber nach wie vor für alle, die ihn kannten, ein Mann der Gegensätze. An und für sich hatte er als aufnehmender Musiker zweimal versagt, konnte aber jederzeit für volle Häuser innerhalb des Chitlinʼ Circuit sorgen, wo Clint Brantley ihn regelmäßig weiterhin touren ließ. Auf dessen Rat hin stellte er eine feste Begleitband zusammen, indem er die Instrumentalisten des R&B-Duos Shirley and Lee anheuerte, als es in Nashville auftrat. Es waren die Saxofonisten Wilbert „Lee Diamond“ Smith (später Mitkomponist von Aaron Nevilles „Tell It Like It Is“) und Clifford „Gene“ Burks“, E-Gitarrist Nat „Buster“ Daniel und Schlagzeuger Charles Connor.
Dieser erzählte: „Richard wollte uns mit nach Georgia nehmen. Er hatte nämlich keine Gruppe, nur einen Gitarristen aus Memphis, Thomas Hartwell. Der war auch sein musikalischer Leiter, weil er in Hausbands von Clubs spielte. Ansonsten zog damals niemand mit ihm durch die Gegend. Er war derjenige, der auf uns zukam und meinte, Richard wollte uns anheuern. Ich konnte ihm nur sagen: „Gern, Mann, aber ich hab kein Schlagzeug. Ich muss mein altes vom Pfandhändler zurückkaufen.“ Wir hatten halt überhaupt keine Kohle und seit drei Wochen nichts Anständiges zu uns genommen. Meine Schuhe waren voller Löcher, also ich fragte ihn: „Könntest du bitte dafür sorgen, dass wir was zu essen kriegen?“ Richard tat es. Dann holte er mein Kit vom Pfandleiher und kam für mein Hotelzimmer auf, mit dessen Miete ich im Rückstand war. Das zeigt, wie gern er mit uns arbeiten wollte.“
Connor, der seinerzeit erst 18 gewesen war, ergänzte noch: „Ich hatte Richard in dem Club Tijuana in New Orleans gesehen, wo er mit den Temple [sic] Toppers aufgetreten war, und wusste um sein großes Talent. Meine Mutter kannte ihn auch. Als ich ihr sagte, ich würde nach Macon fahren, erwiderte sie: „Little Richard, das ist doch der Junge, der wie ein Mädchen aussieht mit seinen langen Haaren, oder?“ Er hatte also schon einen Ruf weg, wollte aber noch viel mehr. Und er wusste, was wir für ihn tun sollten. Wir probten für gewöhnlich bei ihm zu Hause im vorderen Zimmer, während draußen an die 50 Leute standen und zuhörten. Nach einer Woche dort meinte Richard: ,Komm mit, wir gehen zum Bahnhof in der Fifth Street und schauen dem Zug hinterher.‘ Die Bahn fuhr also ab. Sie entfernte sich und machte dabei ‚tsch-tsch-tsch-tsch, tsch-tsch-tsch-tsch‘. Dann wurde sie schneller: ,tsch-tsch-tsch-tsch, tsch-tsch-tsch-tsch‘, und er sagte: ,Das ist der Rhythmus, den du bei uns spielen sollst.‘ Ich antwortete: ,Nun ja, du willst Achtelnoten.‘ Und die hatten eine Menge Energie, Mann.“
Richard erweiterte die Band, als sie nach Macon kamen, um den dritten Saxofonisten Grady Gaines und Kontrabassist Olsie „Bassy“ Robinson, der eine Schlüsselrolle einnahm, indem er das pochende Fundament legte. Die Gruppe spielte punktgenau zusammen und war so flexibel, dass sie auf Richards flatterhafte Stimmungs-, Tempo- und Stilwechsel reagieren konnte. Er behielt sie während seines Runs auf die Spitze die ganze Zeit über bei, wobei der Glanz der Upsetters fast so legendär wurde wie er selbst. Die Mitglieder schminkten sich ebenfalls und trugen einheitliche Kleidung; die liebten sie, Ersteres hingegen nicht, wenngleich sie es als notwendiges Zugeständnis an die lukrative Bekanntheit des Acts auffassten. Zudem hatte es praktische Gründe.
Laut Connor nannte Richard die Combo The Upsetters, weil „wir jede Stadt, in der wir spielten, in Aufruhr versetzen sollten. Er sagte etwa den Saxofonisten – allen außer mir, weil ich ja hinterm Schlagzeug saß: „Wenn eine Band von der Bühne springt, möchte ich, dass ihr vom Dach des Gebäudes springt!“ Er wollte alle anderen übertreffen … Wir mussten bunte Klamotten anziehen, wie Schwule. Das war nötig, um in den weißen Clubs zu spielen, damit wir nicht bedrohlich auf die weißen Girls wirkten, damit das weiße Publikum nicht bemerkte, dass diese schwarzen Jungs scharf auf sie waren.“
Auf der künstlerischen Ebene formten die Upsetters Richards charakteristischen Sound, den man idealerweise live erlebte, wenn sich alle Strömungen von „Race Music“ zu einer reißenden Welle vereinten und die brausende Begleitung der Band seine Sprengkraft verstärkte. Die Zuschauer in den Clubs kannten seine obskuren Songs und sangen sie mit. Die prall gefüllten Säle warfen pro Show 15 Dollar ab, sodass die Gruppe manchmal auf 100 Dollar wöchentlich kam, und Richard bestand darauf, nicht mehr einzustreichen als die anderen. Bei Konzerten etablierter Sänger wie Fats Domino oder Chuck Berry, der noch auf seinen Zenit zustrebte, rief er sich herablassend ins Gedächtnis, dass diese „Blues-Typen“ in kalter Furcht davor, ihm nicht gewachsen zu sein, in seinem Schatten stehen würden.
Trotzdem stand er nach der Tournee abermals am Busbahnhof, der die Ungewissheit bezüglich seines weiteren Werdegangs symbolisierte. Da sich keine Plattenfirma bei ihm meldete, vermutete er, Don Robey würde ihn madig machen. Er dachte sogar, es sei vielleicht der Wille Gottes, um ihn wieder auf den geistlichen Pfad zu lotsen. Gottes Wirken war für Little Richard jedoch rätselhaft. Just als er die Kanzel hätte wählen können, öffnete sich eine neue Tür, was seine musikalischen Hoffnungen aufrechterhielt. Dies geschah im Frühjahr 1955, als Lloyd Price ein Konzert im Macon City Auditorium gab. Er wurde hoch gehandelt und war neben Fats Domino ein früher Emporkömmling der Szenehochburg New Orleans. Seine erste Aufnahme „Lawdy Miss Clawdy“ führte 1952 die R&B-Charts an, und das in Los Angeles ansässige Label Specialty verkaufte über eine Million Exemplare der Single. Obgleich die darauffolgenden Veröffentlichungen weniger Erfolg hatten, schenkte ihm „Clawdy“ regen Hörerzulauf und einen markanten, ursprünglich von Fats (der hier auch Piano spielte) kultivierten Sound, zu dem die Studiomusiker einen knalligen Shuffle-Beat beisteuerten. Richard war einer von vielen, die sich davon mitreißen ließen, weshalb er die Upsetters anwies, sich an dieser Spielweise zu orientieren.
Er sah zu, dass er ins Auditorium kam, als Price dort auftrat, und mogelte sich an den Sicherheitskräften vorbei, um eine Audienz bei ihm zu bekommen. Price kannte Richard und die meisten anderen, die den Circuit bedienten, und begeisterte sich dermaßen für sein Schaffen, dass er ihn drängte, mit einem Tonbandgerät ein Demo aufzunehmen und an Art Rupe zu schicken, den Geschäftsführer von Specialty. Lloyd gab ihm die Adresse des Labels am Sunset Boulevard und versprach, ein gutes Wort für ihn einzulegen. Binnen weniger Tage trug Richard Songs zusammen, die er geschrieben hatte, und fand sich im Studio von Hamp Swainns Sender WBML ein. Nur in zwei der Tracks, „Wonderinʼ“ und „She’s my Star“, spielt er im Hintergrund Klavier, und zwei weitere, „Directly From My Heart To You“ sowie „Iʼm Just A Lonely Guy“, waren A-Capella-Nummern. Er wies Rupe direkt darauf hin, er möge ihn aufgrund des Letztgenannten unter Vertrag nehmen. Auch diese Stücke entsprachen nicht dem, was er gern aufgenommen hätte, doch er blieb bei Gospel-Blues, um Specialty nicht zu verprellen. Nach der Session nahm er das Band, steckte es behutsam in einen Umschlag und versandte es.
Daraufhin wartete er … und wartete.
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Specialty hatte etliche heißere Eisen im Feuer. Das 1945 von Rupe gegründete Unternehmen bot ein beeindruckendes Programm aus Blues und frühem Rock ’n’ Roll mit besonderem Fokus auf den Sound von New Orleans. Kräftigen Aufwind bekam es nicht nur dank Price, sondern auch durch Eddie „Guitar Slim“ Jones, der 1953 den wichtigen Blues-Gospel-Hit „The Things I Used to Do“ einspielte; produziert wurden seine anspruchsvollen, kratzigen Gitarrenlinien und schwermütigen Vocals von dem jungen Pianisten R. C. Robinson, der bald darauf – als er einen Deal mit Atlantic abschloss – unter dem Namen Ray Charles firmierte. Das Lied wurde eine Nummer 1, hielt sich 42 Wochen lang in den R&B-Charts und schwappte auch auf den weißen Markt über (später coverten es James Brown und Jimi Hendrix). Des Weiteren hatte sich Rupe der Gospelgruppe Soul Stirrers angenommen, deren Leadsänger ein gewisser Sam Cooke war, ein Tenor mit honigsüßer Stimme, den die Girls umschwärmten, wenn er seinen Sexappeal auf den Brettern ausströmte, während er fromme Texte zum Besten gab. Mit diesem Stall stand das Label in erbitterter Konkurrenz mit den führenden Labels für „Race Music“ in L. A.: Imperial, Federal und Modern. Letzteres war die Heimat von John Lee Hookers und Etta James.
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