„Ich entschied mich, Brian zu entführen“, erzählte Anita später. „Es klingt wirklich albern, doch daraus wurde sogar ein Film gemacht [Zwischen Beat und Bett, 1968, mit Donald Cammell als Ko-Autor], also über die Entführung eines Popstars. Brian schien der sexuell flexibelste Stone zu sein, ich wusste aber auch, dass ich mit ihm reden konnte. Tatsächlich war ich aber zuerst sein Groupie – wirklich!“
Anitas längere Anwesenheit sollte – und das wird wohl niemanden überraschen – die bereits gegenüber Brian bestehenden Animositäten der Band verstärken und die anderen provozieren. Der aufgrund seiner unabhängigen Einstellung und seines so wesentlich anderen Charakters oftmals von den Stones ausgeschlossene Musiker hatte nun eine mächtige Fürsprecherin an seiner Seite. Von Anfang an spiegelte das Paar die Persönlichkeit des jeweils anderen wider. Sie teilten und zeigten eine Arroganz, die gelegentlich in dunkle Wege mündete. Da Jones’ Status als Bandgründer nur noch eine schwache und wenig überzeugende Daseinsberechtigung bei den Stones ausmachte, „packte“ sich Anita die kultiviertere Seite von Brian und verstärkte sie.
Anitas Unterstützung bedeutete für Jones einen riesigen Triumph über Micks und Keiths Dominanz, eine Parteinahme, die in diesem Schurkendrama eine seltene Ausnahme darstellte. Über Jones’ emotionalen Ballast aus der Vergangenheit mochten seine Bandkollegen mal verzweifeln, mal gemeine Witze reißen, doch mit Anita hatte er einen echten „Fang“ gemacht.
„Ich fand auf jeden Fall, dass Brian sehr viel Glück gehabt hatte“, erzählte Richards später. „Als ich Anita das erste Mal sah, war mein erster Gedanke: ‚Verdammt, was macht denn so eine heiße Mieze mit Brian?‘ Anita war unglaublich stark, hatte eine viel stärkere Persönlichkeit als Brian, war selbstsicherer und hielt nichts zurück, wohingegen Brian voller Zweifel steckte.“
Die Allianz zwischen Jones und Pallenberg stellte geradezu einen Schock für diejenigen dar, die Brians kurze Aufmerksamkeitsspanne hinsichtlich Beziehungen kannten. Anitas Intelligenz und ihr kraftvoller Feminismus erhoben sie über die Menge der unterwürfigen Frauen, die so häufig an den Rockschößen der Band hingen.
„Für mich war sie ein Rätsel“, berichtet der Fotograf Gered Mankowitz. „Wenn sie dich nicht dabei haben wollte – egal, was gerade abging –, zeigte sie es dir auch deutlich. Sie hatte ein einzigartiges, sehr vereinnahmendes und überaus sexuelles Charisma. Man kann sie als beängstigenden, manchmal ungeheuerlichen Charakter beschreiben. Sie konnte sehr cliquenhaft sein. Sie und Brian führten eine Beziehung, bei der sie sich abschotteten und zusammenhingen. Sie waren von allem um sie herum abgeschnitten.“
„[Anita] war extrem offen und unverblümt“, erklärte Marianne Faithfulls früherer Ehegatte John Dunbar. „Sie konnte dich aufziehen, aber auch ein ‚harter Kerl‘ sein. Wenn Leute sie auf irgendeine Art verarschen wollten, machten sie denen das Leben zur Hölle.“
Erzählungen nach warnte Jagger – der Anitas Ankunft als eine echte Herausforderung empfand – die Leute in seinem engen Umfeld vor einem näheren Kontakt mit ihr. Das änderte nichts daran, dass Jaggers damalige Freundin Chrissie Shrimpton Anita als eine ehrliche und gradlinige Person einschätzte. „[Sie] war sich ihres Einflusses bewusst, aber auch sehr mitfühlend“, berichtete Shrimpton dem Autor Victor Bockris. „Im Gegensatz zu den anderen Mädchen, die mir meinen Platz streitig machten, bemerkte ich bei Anita niemals so eine Tendenz. Vielleicht war sie manchmal boshaft, doch sie hatte auch viel Macht. Sie setzte ihre Macht aber niemals für bösartige Aktionen ein, was ich sehr an ihr schätzte. [Anita] war schräg, freaky und auch stark, aber ihre Gefühle waren immer echt.“
Obwohl sich Marianne Faithfull damals eher im Dunstkreis der Band aufhielt, bemerkte sie, dass Anita größtenteils dafür verantwortlich war, dass die Stones [im Rahmen der Psychedelic-Ära] ein Renaissance-Image aufbauten und eine andere Grundhaltung einnahmen. 1994 schrieb sie: „Das Bündnis von Anita mit Brian ist zugleich die Geschichte, wie aus den Stones die Stones wurden. Sie war eine der maßgeblich Verantwortlichen für die kulturelle Revolution in London, indem sie die Stones mit den wohlhabenderen Jugendlichen zusammenbrachte.“
Brian Jones’ oftmals ungehaltene und egomanische Präsenz befremdete zahlreiche Menschen, doch im Einklang mit Anita hielt die Kombination ihrer Charaktere den Kritikern stand. Durch den Energieschub, den die Beziehung ihm gab, nahm Brians Selbstvertrauen exponentiell zu.
„Ich empfinde Brians und Anitas Beziehung als höchst faszinierend“, erklärte Paul Trynka, Autor der besten und alles überragenden Jones-Biografie Sympathy For The Devil: Die Geburt der Rolling Stones und der Tod von Brian Jones. „Ich glaube, dass es für Brian eine bewusste Entscheidung war, eine Art Verdoppeln-oder-Beenden-Wette, denn er wusste, dass sie ein grandioses Team würden. Ein Teil von ihm liebte das Chaos, das Alles-oder-Nichts, alles in Aufruhr zu versetzen. Er wusste, dass Anita und er zusammen etwas Energiereiches freisetzten. Die beiden waren das ultimative Power-Paar, immer an vorderster Front, und Anita war nun mal 50 Prozent der Beziehung.“
„Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, wann ich Anita das erste Mal traf“, erzählte der Stones-Manager Andrew Oldham dem Autor 2018, „doch ich spürte eine Kraft, eine Energie, die nicht nur Brian (und später Keith) berührte, sondern den gesamten Weg der Rolling Stones beeinflusste. Ich wollte diese Stärke nicht näher ergründen, es war mir schlichtweg egal, doch ich wusste, dass Anita zu den Hauptautorinnen der kommenden Kapitel der [Stones-Geschichte] zählen würde“.
Dank der Beziehung mit Brian (und der Tatsache, dass ihre Anwesenheit bei der Presse bislang größtenteils unbemerkt blieb) fand Anita genügend Freiräume, um eine Party in angesehener Gesellschaft steigen zu lassen. Ready Steady Go!, die heiße TV-Show mit den energiegeladenen Auftritten, gehörte zu einer der Gelegenheiten, bei denen sie mit einem eingeladenen Publikum das Tanzparkett „polierte“. Am 29. Oktober 1965 waren die Stones der Hauptact, doch auch The Animals traten auf, The Searchers und Chris Farlowe. Trotz der erhofften Anonymität war ein Fotograf von der Paris Match bei der Übertragung anwesend, der eine Reihe von Aufnahmen von der ekstatisch tanzenden Anita schoss. Aufgekratzt, grell und unbekümmert dominiert Anita die Menge der Gäste, die eine Party vortäuschen.
Ein weiterer kurzer Augenblick von Anita im Party-Modus in der damaligen Zeit wird in der Rediffusion-Doku Go, Go, Go, Said The Bird festgehalten, einer der scheinbar endlos vielen Filme, die versuchen, das Swinging-London-Phänomen zu erklären. Während des Programms wird Anitas Präsenz in London erstmalig von einer Filmkamera eingefangen.
Einige Personen lernten sie damals näher kennen wie der Musikverleger Tony King, der 2005 dem Autor Andy Neill berichtet: „In konventioneller Hinsicht war Anita nicht schön, doch sie raubte einem den Atem. Ich begegnete ihr zuerst [1965] mit Andrew [Oldham] und [seiner Frau] Sheila im Scotch Of St James. Später traf ich sie im Chez Castel, wo sie zu mir rüberkam und sich vorstellte. Sie erzählte mir, dass sie mit Brian ging. Sie und Brian waren ein fantastisch aussehendes Paar.“
Trotz des vollen Terminplans verbrachten die beiden so viel Zeit wie möglich zusammen. Die räumliche Entfernung stellte niemals ein Hindernis dar, denn ihre Leidenschaft war offenkundig. Bei einem Job in Paris Ende 1965 traf Anita wieder Deborah Dixon und Donald Cammell. Während des Aufenthalts in Montparnasse sah sie Donalds Bruder David (späterer Produzent von Performance). Donald hatte schon überschwänglich über das bevorstehende Treffen gesprochen, und David zeigte sich tief beeindruckt, als er sie das erste Mal sah.
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