Man sollte jedoch fairerweise sagen, dass die Dringlichkeit sich von Industrie zu Industrie unterscheidet. Für die meisten Industrien, die dem Endkonsumenten zugewandt sind, wie der Einzelhandel, ist die Handlungsnotwendigkeit schwer zu leugnen. Tatsächlich ist die Digitalisierung dort ein entscheidender Überlebensfaktor geworden. Das hat viel mit der Tatsache zu tun, dass Unternehmen in diesen Industrien direkt den zunehmenden Erwartungen der Endkunden ausgesetzt sind. Kunden haben keine unterschiedlichen Erwartungshaltungen für verschiedene Industrien – sie erwarten ein reibungsloses und einfaches Kundenerlebnis, egal ob sie Kleidung online bestellen oder einen Kredit beantragen. Das Kundenerlebnis, an das sie durch die führenden digitalen Champions gewöhnt sind, definiert die Messlatte für alle Interaktionen mit der Unternehmenswelt. Auf der anderen Seite haben traditionellere B2B-Industrien wie die Maschinenbauindustrie mehr Zeit. Sie sind schnellveränderlichen Kundentrends und -erwartungen nicht direkt ausgesetzt und ihr Kerngeschäft boomt noch immer (in den meisten Fällen).
Gleichwohl, Wandel zeichnet sich sogar in den traditionellsten B2B-Industrien ab. Die oben beschriebenen Trends lassen keine Industrie unberührt, das heißt auf lange Sicht ist keine Industrie sicher. Viele der Trends wurden lange Zeit als B2C-spezifisch betrachtet, basierend auf dem weitverbreiteten (aber irrigen) Glauben, dass traditionelle Produktion und andere kapitalintensive Industrien von der Digitalisierung nicht (so schnell) beeinflusst würden. Doch Airbnb, Uber und andere haben gezeigt, dass dies nicht länger wahr ist und dass sogar kapitalintensive Industrien radikalem Wandel ausgesetzt sein können.
Chancen, das existierende Kerngeschäft (1. S-Kurve) zu verbessern und digital zu expandieren
Zwar wird die Digitalisierung zumeist als Bedrohung angesehen, doch ist sie auch eine gewaltige Chance, da sie helfen kann, das bestehende Kerngeschäft entlang einer Reihe von Maßgaben zu verbessern. In erster Linie erlaubt die Digitalisierung der Kernprozesse massive Effizienzzuwächse durch Optimierungen entlang der Wertschöpfungskette und eine effizientere Nutzung der Ressourcen, was zu substanziellen Kostenreduktionen führt. Dieses Argument stellt für die meisten etablierten Unternehmen die wohl wichtigste Handlungsnotwendigkeit dar – zu Recht. Wenn etablierte Unternehmen nicht die Art und Weise verändern, wie sie operieren, riskieren sie auf lange Sicht ihre Profitabilität. Zweitens: Digitalisierung erlaubt das Erreichen noch nie dagewesener Qualitätslevels, beispielsweise durch größere Präzision bei der Produktion und besseren Service. Drittens: Sie erlaubt schnellere Produktentwicklung (was zu schnellerer Time-to-Market führt, sprich die Zeit von der Produktentwicklung bis zur Markteinführung reduziert) und größerer Flexibilität bei der Produktion (wir sprachen schon über die Anpassung an Kundenwünsche).
Wenn man nach Wegen zur Verbesserung des Kerngeschäfts sucht, kann Digitalisierung als Wegbereiter oder als Werkzeug für die Lösung von Problemen angesehen werden, die schon lange existieren. Mit anderen Worten, die Probleme, die gelöst werden, sind nicht neu, aber sie lassen sich mithilfe digitaler Werkzeuge leichter und günstiger lösen. Und einige Unternehmen haben die Voraussicht und wissen, dass sie ihr Kerngeschäftsmodell revolutionieren müssen, einfach weil die Art und Weise, wie sie ihre Wertschöpfungskette aufgesetzt haben, auf lange Sicht nicht überlebensfähig sein wird.
“Wir haben uns unsere Baustellenabfall-Entsorgungslogistik angeschaut und sahen niedrige Gewinnspannen, undurchsichtige Prozesse und zweifelhafte Kundenzufriedenheit aufgrund eines schlecht gestalteten Geschäftsprozesses. Hier sahen wir eine Chance, unser eigenes Angebot zu verbessern, indem wir ein radikal neues Geschäftsmodell aufstellten, bevor irgendjemand anderes das tun würde.”
Andreas Opelt, Chief Market Officer, Saubermacher (das österreichische Müllentsorgungsunternehmen, das Ihnen bereits in der Einleitung begegnet ist) 7
Neben Argumenten rund um die Verbesserung des bestehenden Geschäfts stellt die Digitalisierung auch eine große Chance dar, bestehende Kernprodukte und -dienstleistungen digital zu erweitern, den Wert für den Kunden zu steigern. Zweifellos ist die digitale Expansion von Kernprodukten und -dienstleistungen der zweitwichtigste Grund für etablierte Unternehmen, nach unseren Interviews zu urteilen. Wenn die Digitalisierung mit gesteigertem Engagement für Self-Service einhergeht, kann sie helfen, eine bessere Kundenerfahrung zu schaffen, während gleichzeitig Kosten reduziert werden – dies ist eine Win-win-Situation für alle. Angetrieben von sich verändernden Kundenerwartungen, empfinden etablierte Unternehmen einen Druck, Kunden dasselbe nahtlose Erlebnis zu bieten, das die Kunden bereits von anderen Produkten kennen.
Aber einfach analoge Prozesse zu digitalisieren erschöpft nicht das ganze Potenzial, das im Kerngeschäft steckt – viel mehr ist möglich. »Über den Kern hinausgehen« oder »Dienstleistung über den Kern hinaus« sind Ausdrücke, die wir recht häufig gehört haben, wenn wir unsere Interviewpartner befragt haben, wie die Digitalisierung ihnen beim Ausbau des Kerngeschäfts helfen konnte. Etablierte Unternehmen können ihre Kernprodukte anreichern (während sie die Kernfunktionalität unverändert lassen), indem sie digitale Produkt- oder Dienstleistungs-Komponenten aufsatteln und so einen Mehrwert für die Kunden schaffen.
Ein weniger herausragender Nebeneffekt der Digitalisierung, zusammenhängend mit der effizienteren Nutzung von Ressourcen, besteht darin, dass sie das Umschalten zu einer anderen Nutzung von Assets erlaubt, weil Unternehmen viel mehr über ihr Equipment wissen als je zuvor. Patrick Koller, CEO des französischen Autozulieferers Faurecia, führt aus, dass Unternehmen Aufgaben wie die Instandhaltung des Equipments viel leichter outsourcen können, weil solche Aufgaben zu einem vorhersehbaren Kostenfaktor werden. Ein weiteres Beispiel für die unterschiedliche Nutzung von Assets wäre es, nur für die effektive Nutzung des Equipments zu zahlen, was den Investitionsaufwand reduziert und zu einem Geschäftsmodell führt, das ohne den Besitz großer Vermögenswerte auskommt. 8 Wenn dieselbe Idee bei Produkten angewandt wird, die an Kunden verkauft werden, eröffnet dies vollständig neue Wertschöpfungspotenziale und Arten von Kundenservice. Das hört sich für uns sehr nach einer 2. S-Kurve an.
Chancen, ein neues (digitales) Geschäft und neue Wachstumschancen aufzubauen (2. S-Kurve)
Neben den Chancen, das Kerngeschäft zu verbessern und zu expandieren, sind digitale Technologien ein großartiges Sprungbrett für Unternehmen, von dem aus sie neue Wertschöpfungspotenziale erschließen können. Initiativen aus dieser Kategorie zielen größtenteils darauf ab, innerhalb eines existierenden Geschäftsfeldes neue Geschäftsmodelle zu etablieren, oder insgesamt auf die Revolutionierung der Industrie. Versuche, diese neuen Wachstumsmotoren zu etablieren, erfordern häufig eine Menge Zeit und Ressourcen, während das Ergebnis äußerst unsicher ist. Trotzdem, diese Initiativen können eine gewaltige Auswirkung haben, wenn sie sich als erfolgreich erweisen. Zappos, Alibaba und Netflix sind Beispiele neuer Geschäftsmodelle, die erfolgreich etablierte Industrien revolutioniert haben. 9
Der Wunsch von Unternehmen nach neuen Wachstumschancen liegt häufig in einem schrumpfenden Kerngeschäft begründet. Einige etablierte Unternehmen sind zu dem Schluss gekommen, dass eine weitere Innovation ihres Kernproduktes weder möglich noch ökonomisch sinnvoll ist. Aesculap, ein in Deutschland ansässiger Marktführer bei Medizinprodukten, hatte ein Kernprodukt, das vollständig optimiert war, und größere Innovationen waren nicht zu erwarten. Digitalisierung war daher ein Wegbereiter, der vollständig neue Innovationen möglich machte und neues Wachstumspotenzial außerhalb der Kernprodukte entfesselte. 10
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