Sobald im Unternehmen Einigkeit hinsichtlich der Notwendigkeit eines dualen Geschäftsansatzes erreicht wurde, tauchen neue Fragen auf. Zum Beispiel: Was sind die häufigsten Fallstricke, an die in dieser Phase gedacht werden muss? Warum haben so viele Unternehmen Probleme damit, rechtzeitig zu handeln und sich erfolgreich zu transformieren? Sehr viele Unternehmen haben schon versucht, sich zu transformieren, gibt es also etwas, das man aus dem Scheitern der anderen lernen kann, und wie können diese Fehler vermieden werden? Noch vieles mehr könnte gefragt werden, dabei sind wir erst ganz am Anfang der Transformation. Aber keine Sorge – wir werden alle diese Fragen klären.
BEANTWORTEN SIE DAS »WARUM« FÜR IHR UNTERNEHMEN, BEVOR SIE ETWAS ANDERES TUN
»Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung«, so ein altes Sprichwort. Das gilt auch im Zusammenhang mit digitaler Transformation. Der erste Schritt ist die Erkenntnis einer Handlungsnotwendigkeit. Die Beantwortung des WARUMist die Basis aller folgenden Entscheidungen. Zu verstehen, wie die Digitalisierung die Industrie und das Geschäftsmodell beeinflusst, ist ein guter Ausgangspunkt, um verstärkt für die Notwendigkeit einer Transformation zu sensibilisieren und den notwendigen Richtungswechsel zu prägen. Selbstverständlich liegt das Erkennen einer Handlungsnotwendigkeit zuerst und vor allem in der Verantwortung der Unternehmensleitung. Aber dies bedeutet nicht, dass dieses Kapitel nur für sie relevant wäre. Tatsächlich sind es oft die Mitarbeiter auf den unteren Ebenen, die ein Ohr am Markt haben und deshalb wertvolle Antworten auf die Ausgangsfrage geben und den Transformationsprozess überhaupt erst anstoßen können. Das WARUMmag durch viele verschiedene Gründe motiviert sein. Basierend auf unseren mehr als einhundert Interviews haben wir die Gründe, warum etablierte Unternehmen eine Handlungsnotwendigkeit verspüren und sich auf eine neue, digitale Reise begeben, gesammelt und eingeordnet. Werfen wir einen Blick auf verschiedene Gründe.
Bedrohung durch neue Konkurrenten
Zwar sind etablierte Unternehmen an Konkurrenz aus demselben Lager gewöhnt, doch die Digitalisierung bringt zwei neue Arten von Mitspielern an den Tisch: große Tech-Player und Start-ups.
Unternehmen wie Facebook, Amazon, Apple, Netflix und Alphabet aus den USA oder Baidu, Alibaba und Tencent aus China sind Beispiele für die sogenannten »Big Tech«-Player, die in den letzten Jahren die Wettbewerbslandschaft radikal verändert haben. Diese Unternehmen, ursprünglich auf das kommerzielle Internet fokussiert (mit Apple als Ausnahme), drängen jetzt in traditionelle Industrien und stellen eine echte Bedrohung für das etablierte Geschäft vieler alteingesessener Unternehmen dar. Sie profitieren von der Tatsache, dass neue Technologien Barrieren zwischen etablierten Industrien niederreißen und es ihnen erlauben, leichter in angrenzende Industrien und Geschäftsbereiche zu expandieren. Dies führt zu einer noch nie dagewesenen globalen Konkurrenz zwischen Unternehmen der »alten Welt« und neuen digitalen Akteuren. Diese Tech-Player revolutionieren eine Industrie nach der anderen.
Große Tech-Player sind nicht die einzige Bedrohung in der Wettbewerbslandschaft. Mehr und mehr Start-ups versuchen, in die etablierten Industrien einzudringen. Globale Zentren wie jene im Silicon Valley, in Tel Aviv, Shenzhen, in Berlin, Paris und anderswo bilden Ökosysteme, in denen neue Geschäftsideen geboren und gefördert werden. Diese Start-ups brechen in die traditionellen Geschäftsfelder etablierter Unternehmen ein und bedrohen deren Führungsposition, oft mit bemerkenswertem Erfolg. Man denke nur an die große Anzahl digitaler Disruptoren (oder digitaler Angreifer), die in den letzten Jahren zu beobachten waren. Die Online-Direktbank N26 oder das Fernbus-Unternehmen FlixBus sind bekannte europäische Beispiele für Start-ups, die sehr erfolgreich beträchtliche Marktanteile etablierter Unternehmen in traditionellen Industrien erobert haben. In den USA haben Uber, Airbnb und desgleichen begonnen, in etablierten, gewinnträchtigen Industrien zu triumphieren. Schauen wir auf den Erfolg dieser Start-ups, sehen wir, dass ihre fesselnden Geschichten oft auf einer vergleichsweise simplen, doch klugen Kombination aus neuen Technologien und Geschäftsmodell-Innovation basieren.
Was große Tech-Player und Start-ups gemeinsam haben, ist ihr Fokus auf die ganzheitliche Betrachtungsweise der Customer Journey. Indem sie zuerst durch die digitale Linse auf die Kundenbedürfnisse schauen, sind sie in der Lage, unbefriedigte Bedürfnisse auszumachen, die bislang von den etablierten Unternehmen ignoriert wurden.
Bedrohung durch bestehende Konkurrenten
Während es oft die neuen Player sind, welche den Wettbewerb innerhalb etablierter Industrien verstärken und die etablierten Unternehmen zu einer Reaktion zwingen, kann die Notwendigkeit einer digitalen Transformation auch von anderen etablierten Wettbewerbern ausgelöst werden, welche die Marschrichtung für eine ganze Industrie angeben. Eine globale Studie mit der Befragung von 1.600 Führungskräften ergab, dass »neuerfundene Traditionsunternehmen« – etablierte Spieler, die auf neue und digitale Art in den Wettstreit traten – ihre traditionellen Mitbewerber hinsichtlich Wachstum und Erlös übertrafen. 1 Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass etablierte Unternehmen, die sich in ihren Investitionen und strategischen Entscheidungen die Chancen des digitalen Geschäfts wirklich zu eigen machen, eine genauso große Bedrohung für andere etablierte Unternehmen sind wie die Digital-Natives. Unternehmen, die eine Führungsrolle einnehmen und die digitale Agenda formulieren, setzen ihre Mittbewerber unter Druck, ihrem Beispiel zu folgen. Verglichen mit ihrem Wettbewerbsumfeld werden die Unternehmen, die sich digital neu erfinden, mit größerer Wahrscheinlichkeit radikale Veränderungen ihrer Strategie und ihrer Geschäftsmodelle vornehmen, in größerem Umfang neue Technologien nutzen und mutiger in die Digitalisierung investieren.
Neue oder veränderte Industrie- und/oder Kundentrends
Zusätzlich zur Bedrohung durch die Konkurrenz kann die Handlungsnotwendigkeit auch von neuen Trends befeuert werden, die grundsätzlich die Art und Weise verändern, wie Geschäfte gemacht werden. Die digitale Revolution verändert die Kundenerwartungen und Industriegrenzen in schnellerem Tempo als je zuvor. Kundenzentrierte Nutzenversprechen verbinden bislang getrennte Industrien miteinander und schaffen neue Erfahrungen, die bis vor Kurzem undenkbar waren. Denken Sie nur an Ihr Smartphone, Ihre Smartwatch, Ihr Smart-Home-System oder das interaktive Kontrollsystem in Ihrem Auto, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Verwischte Industriegrenzen führen dazu, dass viele etablierte Unternehmen sich plötzlich der Konkurrenz von Mitspielern gegenüber sehen, an die sie zuvor nie gedacht hatten. Folglich müssen Unternehmen ihr Geschäftsmodell nicht nur im Licht der Industriekollegen definieren, sondern sie müssen auch überlegen, wie effektiv ihr Geschäftsmodell im Wettbewerb mit schnell aufkommenden Ökosystemen ist, die eine Vielzahl von Geschäften in verschiedenen Bereichen umfassen. All dies hat beträchtliche Folgen für die bereits bestehenden Geschäftsmodelle etablierter Unternehmen, wie Onur Erdogan, früherer Hauptgeschäftsführer des führenden Luxus- und Kosmetikunternehmens Estée Lauder, berichtet. Er erklärt: »Die Digitalisierung unseres Geschäfts wird eigentlich von den Kunden angetrieben. Kunden wollen personalisierte Produkte, Werbung und Kommunikation. Und wenn Sie die liefern wollen, müssen Sie die Art, wie Sie arbeiten und operieren, insgesamt verändern.« 2 Der Trend zu kundenzentrierten, ganzheitlichen Lösungen bringt eine Reihe von Implikationen für etablierte Unternehmen mit sich. Erstens: Produkte und Dienstleistungen müssen besser, billiger, flexibler und kundenspezifischer sein als je zuvor. Viele dieser Entwicklungen werden von neuen Technologien angetrieben, die eine Kundenspezifizierung für die breite Masse ermöglichen. Zweitens: Mit dem Aufkommen von Ökosystemen laufen etablierte Unternehmen Gefahr, ihren direkten Zugang zum Kunden zu verlieren und zu einem Lieferanten oder »white-label Backoffice« zu werden. 3 In solch einer Situation droht, dass Unternehmen, verglichen mit den (digitalen) Playern, die das Ökosystem und den Kundenzugang kontrollieren, niedrigere Gewinnspannen einfahren. Drittens: Die veränderten Kundenerwartungen fordern von etablierten Unternehmen, dass sie verfügbare digitale Technologien nutzen, um ihren Kunden das erwartete Kundenerlebnis bieten zu können. Selbst im Gesundheitssektor zwingt die Digitalisierung Ärzte, Krankenhäuser und andere Institutionen zu Überlegungen, wie sie mit ihren Patienten interagieren können, wie Gieri Cathomas, Experte im Sektor Gesundheitsmanagement, erklärt. Er berichtet, dass junge Start-ups regelmäßig mit tollen Ideen kommen, wie Patienten und Ärzte direkt und bequemer miteinander in Kontakt gebracht werden können. Er sieht dies als eine kundengetriebene Entwicklung, die ganze B2B-Märkte in B2C-Märkte verwandeln kann. 4 Das bedeutet, dass Kunden auf deren bevorzugten Kanälen bedient werden müssen, mit deren bevorzugter Technologie. Außerdem müssen Unternehmen ihnen das nahtlose Kundenerlebnis liefern, das sie erwarten. Was dies noch komplizierter macht, ist, dass Unternehmen nicht viel Zeit haben, um zu reagieren, wie Urs Killing, CEO von Embassy Jewel, einem Schweizer Handelsunternehmen für Luxusuhren und Schmuck, darlegt. Digitalisierung und die damit einhergehende Geschwindigkeit des Wandels führten dazu, dass Unternehmen schneller handeln müssen als je zuvor. »Wir müssen auf Trends reagieren, noch bevor wir ganz verstehen, welche Rolle sie letztlich spielen werden, andernfalls werden wir zu spät dran sein«, führt er aus. 5 Er würde vermutlich Jean-Charles Deconninck zustimmen, dem Aufsichtsratsvorsitzenden von Generix Group, einem globalen Anbieter von Logistik-Lösungen, der argumentiert: »Heute leben wir in einer Welt großer Fluidität. Diese fluide Umwelt fordert offensichtlich von Unternehmen, elastischer und flexibler zu werden, viel mehr als in der Vergangenheit. Diese Notwendigkeit von Elastizität und Flexibilität wird sich auf das ganze Unternehmen auf allen Ebenen auswirken. Es beeinflusst die Elastizität des Produktionsprozesses genauso wie die Elastizität der Gedanken jedes Einzelnen, der in diesen Organisationen arbeitet.« 6
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