Sowieso: Die Kunde von meinen „geschmacklosen“ Blog-Zeilen hatte bereits in ganz Europa die Runde gemacht. Auf Deutsch, Englisch, Italienisch, bestimmt auch Albanisch und Esperanto, konnte man nachlesen, dass gerade wieder so ein „Michael Jackson-Hasser“ daran war, Gift, Galle und Verleumdungen in seinen Computer zu spucken. Tage vor dem Erscheinen des Buches tauchten bei amazon.com die ersten Kapitalverrisse auf. Verrisse, die ohne jegliche Kenntnis der Lektüre verfasst worden sein mussten. Es gab Zeitungen, welche diese praktisch wörtlich wiederholten und gern noch die Zusatzinformation nachlieferten, das ganze Buch sei über das Wochenende in zwei Tagen hingeworfen worden. Ich fühlte mich – ach, wie ironisch beim Thema MJ! – missverstanden und schaltete mich zum ersten Mal in meinem Leben in einige Forumsdiskussionen ein. Und siehe da, ich wurde mit einer Freundlichkeit empfangen, die mich geradezu rührte.
„Black Or White“ kam im Rekordtempo in die Läden. Ich fand mich unversehens in der Rolle eines Bestsellerautors wieder, was mir einige ungewohnte Erfahrungen bescherte. Einen Auftritt im Frühstücksprogramm des Zweiten Deutschen Fernsehens zum Beispiel, an der Seite eines jovialen österreichischen Starkochs und zweier Männer, die einen Flugzeugabsturz überlebt hatten. Bald kam ich zu einer weiteren, vollkommen neuen Erkenntnis: Journalisten können ausnehmend faul sein. Ich hatte bis dahin nicht annähernd das Ausmaß erfasst, in welchem meine Berufskollegen abschreiben, umschreiben und erfinden. Unglaublich wie viele Kritiken – auch die positiven! – haargenau den gleichen Wortlaut aufwiesen. Andere Schreiber bedienten sich der ersten beiden ernst zu nehmenden Rezensionen, die in der Presse erschienen waren, kopierten sie und stellten ein bisschen die Satzordnung um. Oder sie bedienten sich des Synonym-Wörterbuches und spielten quasi eine Coverversion vom Text aus der Verlagsbroschüre ein.
Noch etwas anderes passierte. Immer mehr Fans kontaktierten mich, weil sie den Austausch suchten. Einige wollten ihre auf die Konzerte hin getätigten Flug- und Hotelbuchungen nicht verfallen lassen, so dass wir uns in London zu Tee und Kuchen hinsetzen konnten. Anderen begegnete ich während des nächsten Aufenthaltes in der Schweiz. Und ich bekam E-Mails wie die folgende, die hier mit einigen Kürzungen wiedergegeben sei:
Sehr geehrter Herr Künzler,
Darf ich mich kurz vorstellen? Mein Name ist Carina, ich werde im Februar 38 Jahre alt, bin leidenschaftliche Mutter von vier Kindern und habe vor neun Jahren, als ich mit dem erstgeborenen Sohn schwanger sein durfte, meinen Traumjob als Hausfrau gefunden. Ich bin ein leidenschaftlicher, stiller Fan von Michael Jackson. Herr Künzler, ich bin überzeugt, dass Sie viele solche Briefe bekommen haben. Eines dürfen Sie mir aber glauben. Das, was ich nun schreibe, ist absolut ehrlich.
Sie haben in Ihrem Buch erwähnt, dass Michael Jackson nach einem Konzert ab und zu ein Mädchen zu sich in die Garderobe holen ließ, damit es ihm einfach nur zuhören würde. Doch die Mädchen interpretierten dies falsch und fingen an, sich auszuziehen. Wie gerne hätte ich dies getan. Nein, nicht das Ausziehen, sondern das Zuhören. ER WOLLTE NUR REDEN!!!! Begriffen das die Mädchen denn nicht!!!???!!! …
Wissen Sie, was ich zu Michael Jackson sagen würde, wenn er mich zu sich in die Garderobe holen ließe? „Herr Jackson“, würde ich sagen, „es freut mich sehr, und ich fühle mich zutiefst geehrt, dass ich zu Ihnen in die Garderobe kommen darf. Was verleiht mir die Ehre, Ihr Gast sein zu dürfen?“ Genau so würde ich es formulieren in meinem absolut nicht perfekten Englisch, und ich würde mich erst setzen, wenn er es mir erlaubte. Vielleicht käme von ihm die Frage, wie ich meine Teenagerzeit erlebt hätte, und darauf würde ich dies zur Antwort geben: „Herr Jackson, ich bin zwar in Europa aufgewachsen und ich habe eine weiße Haut. Aber uns verbindet etwas. Ich wurde wegen meines Stotterns vom ersten Kindergartentag an bis zum letzten Schultag gehänselt und ausgestoßen. Dann kam die Pubertät und mit ihr die Akne aus voller Kanone auf meinen Rücken geschossen, so dass ich mich zwischenzeitlich nirgends mehr anlehnen konnte, von oben bis unten eine Pustel nach der anderen und von ganz klein bis fast zum Abszess, so entzündet war mein Rücken. Vor und während den Tagen sprossen sie auch auf meinem Gesicht, zum Glück nur dann. Logischerweise fingen auch die Haare an zu wachsen, auch dort, wo man sie als Frau nicht gern haben möchte, an den Beinen. Ich durfte die Haare nicht entfernen, meine Mutter ließ es nicht zu. Dafür schämte ich mich so, wenn wir Turnen oder Schwimmen hatten in der Schule. Ich wehrte mich nicht. Ich tat einfach, was die Mutter sagte. Andererseits hätte ich das Haar auf dem Kopf so gern lang getragen, aber da meine Eltern der Meinung waren, bei kurzen Haaren würde mein schönes Gesicht besser zur Geltung kommen, musste ich es immer schneiden gehen. Während den letzten Schuljahren wurde rundherum gesoffen, gefixt, gekifft und geraucht, was das Zeug hielt. All dies machte ich nicht mit. So wurde meine Ausgrenzung noch schlimmer …
Heute, Herr Jackson, kämpfe ich nicht mehr gegen meine Akne. Sie ist ein Teil von mir. Sie befällt mich nur noch im Gesicht, aber nicht mehr stark. Ich sehe es positiv. Durch die ölige Haut habe ich in meinem Alter immer noch keine Falten. Das Stottern habe ich im Griff und ebenfalls als Teil von mir akzeptiert. Im Vergleich zu früher stottere ich heute praktisch nicht mehr. Ich bin eine Person, die trotz dieser Behinderung auf die Menschen zugeht. Auch macht es mir nichts aus, vor versammelter Menschenmeute einen Vortrag zu halten. Sehen Sie, Herr Jackson, Sie sind überhaupt nicht alleine. Den Glauben an sich selbst darf man nie und nimmer aufgeben!!!! …“ Genau das, Herr Künzler, würde ich Herrn Jackson sagen.
Es tut mir sehr, sehr leid, was mit Michael Jackson geschehen ist. Und alle, wirklich alle, ließen ihn hängen. Nur das Geld wollten sie!! Und er, der nie ein Kind sein durfte und allen traute, so hilfsbereit und so großzügig war, merkte erst zu spät, dass er ausgenützt und in eine Falle nach der anderen gelockt wurde …
Besten Dank dafür, dass Sie sich die Zeit genommen haben, diesen Brief zu lesen. Ich wünsche Ihnen einen ganz schönen Tag.
C.
Mehrere Aspekte an diesem berührenden Brief beschäftigten mich in der Folge sehr. Zuallererst war es die Tatsache, dass aus diesen Zeilen kein hormongebeutelter Teenager sprach, sondern eine reife Frau mit einer Position im Leben, mit der sie zufrieden ist. Auch die eigentlichen Gefühle, die darin angesprochen wurden, schienen mir eher ungewöhnlich zu sein. Das Aufkommen eines Beschützerinstinktes ist in der (meist einseitigen) Beziehung zwischen Fan und Idol bestimmt keine besondere Seltenheit. Allerdings dürften solche Rettungsträume bei einem Teenager auf der Suche nach einem Lebensinhalt einen anderen Stellenwert einnehmen als bei einer glücklichen Mutter von vier Kindern. Sodann faszinierte mich das Phantasie-Szenario, gerade das Mädchen respektive die Frau zu sein, die sich in der Garderobe vor dem Idol nicht auszieht, sondern zuhört (respektive redet). Es hätte mich wundergenommen, welche Fragen C. in diesem Moment an Michael gerichtet hätte. Der Brief drückte die Bestürzung und das Bedauern über das Schicksal eines unerreichbar fernen und doch geliebten Menschen aus. Es kamen darin durchaus Sätze vor, in denen der Zorn der Ohnmacht aufflackerte. Aber nicht sie bestimmten den Ton der Lektüre. Vielmehr war aus den Zeilen Kraft, Stärke und der Willen herauszuspüren, sich dem Alltag zu stellen, so wie er eben war. Das passte nicht mit dem Klischeebild eines „Pop-Fan“ zusammen, der in adoleszenter Hingabe das Zimmer mit Posters voll hängt und sich mit der Vorstellung in den Schlaf träumt, an der Seite des Idols ein Wasserbett ins Wabbern zu versetzen. Ich wage zu bezweifeln, dass jemals ein ähnlicher Brief über Mick Jagger, Jay-Z oder gar Meat Loaf geschrieben worden wäre.
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