Selten, wenn überhaupt lud ich Kenny zu mir nach Hause ein. Auch sonst niemanden, um genau zu sein. Meine übliche Ausrede war, dass Mama zu Hause wäre oder mein Bruder lernte. Alles, was mit meinen Eltern zu tun hatte, erschien mir in meiner halbwüchsigen Gedankenwelt auf einmal unerträglich. Ihr Englisch wirkte so gebrochen; sie waren nicht so beredt wie die Eltern der anderen. Ich dachte, in dem Augenblick, wo ihnen jemand begegnete, würde man wissen, dass ich aus bescheidenen Verhältnissen stammte.
Hin und wieder jedoch wurde mein familiärer Hintergrund sichtbar und drohte mich bloßzustellen, etwa wenn mir jemand eine persönliche Frage stellte wie: „Ist dein Vater nicht Mechaniker bei Koppers?“ Oder: „Habe ich deine Mutter nicht neulich im Gebrauchtwarenladen gesehen?“ Meistens gelang es mir, so etwas abzubiegen, bevor es zu spät war. Die Musik, mein einziger Fluchtweg, blieb weiterhin meine Erlösung.
Ich konnte mir keine eigenen Schallplatten leisten, um mit den neuesten Trends Schritt zu halten, also hörte ich unablässig Radio. Ich hatte in meinem Zimmer ein altes hölzernes Gerät stehen, das schnell alle Aufmerksamkeit auf sich zog, die ich ansonsten auf die Hausaufgaben verwendet hätte. In Gainesville stellten die meisten der von Weißen betriebenen Radiostationen den Sendebetrieb bei Sonnenuntergang ein. Wenn das Wetter gut war und zwischen Tennessee und Florida nicht gerade ein heftiger Sturm tobte, konnte ich die Antenne so lange ausrichten, bis ich damit WLAC in Nashville auf der Mittelwellenfrequenz 1510 empfing, die einzige Station, die schwarze Musik sendete. Während der von Gene Nobles moderierten, knisternden Sendungen wurde ich mit Legenden wie B. B. King, Bo Diddley, Chuck Berry und Muddy Waters vertraut gemacht. Da ich Pat Boones abgestumpfte Version von „Tutti Frutti“, die den ganzen Tag auf den regulären Kanälen lief, gründlich satthatte, hörte ich nachts offenen Mundes zu, wie Little Richard seinen Kram herunterhämmerte.
Ich kämmte mir das Haar mit Pomade zur Seite, nähte mir auf der Nähmaschine meiner Mutter meine Jeans um und machte mich ernsthaft daran, die Musikszene Nordfloridas zu erobern. Ich nahm eines von Papas Bändern und begann, bei anderen Leuten Schallplatten auszuleihen – Elvis, Buddy Holly, Bill Haley And His Comets, im Grunde alles seit den Anfängen des Rock ’n’ Roll. Ich benutzte Papas Voice-of-Music-Gerät und nahm die Platten auf einem Kanal auf. Dann spielte ich dazu Gitarre auf dem anderen und versuchte, die Rock-’n’-Roll-Größen zu imitieren. Als sich mein Vater eine bessere Stereoanlage kaufte, requirierte ich sein altes Gerät und trug es vorsichtig in mein Zimmer. Ich hatte nun jeden Gedanken an höhere Bildung aufgegeben und widmete meine Nächte ganz der Musik.
Mit vierzehn hatte ich meinen zweiten öffentlichen Auftritt. Ich nahm an einem Talentwettbewerb teil und betrat die Bühne der Junior High School allein, nur mit meiner Gitarre und einem Verstärker. „Alles klar, Jungs und Mädels, einen dicken Applaus für unseren nächsten Teilnehmer – Donald Felder“, kündigte mich der Moderator unter den kreischenden Rückkopplungen seines Mikrofons an. Ich war viel nervöser als bei meinem letzten Gig, hauptsächlich deshalb, weil ich diesmal jeden im Publikum kannte. Irgendwie schaffte ich es jedoch, „Walk – Don’t Run“ von den Ventures gut genug zu spielen, dass man es noch erkannte. Es waren etwa fünfhundert Zuschauer anwesend, und die Reaktion war verblüffend. Sie schienen mich zu mögen, und gegen Ende des Auftritts hatte ich den Status einer Neuentdeckung erworben. Ebenso wie ich hatten auch meine Altersgenossen die Phase erreicht, dass sie sich mit ihren Rock-’n’-Roll-Idolen identifizierten, und ich stellte fest, dass ich – als nächstes Äquivalent – plötzlich Fans in Gainesville hatte. Das Beste daran war, dass einige davon sogar Mädchen waren. Mit meinem hübschen Äußeren und meiner schlanken Gestalt wurde ich nun, da ich auch noch musikalisches Talent bewiesen hatte, offenbar als Sahneschnittchen betrachtet. Unnötig zu sagen, dass ich meine neue Coolness genoss.
Drei Wochen nach diesem Auftritt schlug mir einer der Lehrer vor, ich solle doch die örtliche Radiostation WGGG kontaktieren, die regelmäßig die besten Amateure von Gainesville übertrug. Er begleitete mich dorthin, weil er einen der DJs kannte, und arrangierte eine Livesendung für mich. Ich stand in einem winzig kleinen Tonstudio vor einem Mikrofon und drosch zwei Instrumentalnummern herunter: „Apache“ von Jerry Lordan, das die Shadows populär gemacht hatten, und mein altes Kabinettstückchen „Walk – Don’t Run“. Einige meiner Freunde hörten die Sendung. „Gut gemacht, Don“, sagten sie zu mir. „Das war ’ne echt saubere Sache.“ Durch sie fühlte ich mich wie jemand, fast sogar wie Elvis. Bereits damals verblüffte es mich, wie ich mich in der Wahrnehmung der Leute veränderte, wenn ich nur vor ein Mikrofon trat. Der DJ, ein Typ aus Gainesville namens Jim, der im Hauptberuf als Fahrer des örtlichen Bestattungsunternehmens Williams-Thomas arbeitete, bot an, mir bei ein paar Bandaufnahmen zu helfen. Wir wurden gute Freunde und trafen uns abends immer im Schauraum des Bestattungsinstituts, wo wir neben den Sockeln mit den offenen Särgen Frisbee spielten.
Ich stellte eine kleine Schulband mit Kenny Gibbs und dessen Bruder zusammen, und wir probten regelmäßig in ihrer Garage. Seine Mutter wollte, dass wir uns Moonbeams nannten, aber wir fanden den Namen scheiße. Ich kann mich nicht entsinnen, wofür wir uns als Nächstes entschieden, aber irgendwann wurden aus uns die Continentals. Es war sozusagen meine Band. Ich stellte sie zusammen und ließ Karten mit meiner Telefonnummer darauf für die Buchungen entwerfen. Wie es für Teenagerbands in einer Collegestadt typisch ist, wechselten die Mitglieder ständig, je nachdem, wer Gainesville gerade wegen des Studiums verließ oder neu hinzuzog. Kenny spielte eine Zeit lang Bass – nicht weil er besonders begabt gewesen wäre; er sah einfach gut aus und wirkte anziehend auf die Mädchen. Außerdem hatte er das Geld für Equipment, was lebensnotwendig war. Es gab noch zwei weitere Bassisten, die viel besser waren: Barry Scurran, ein Collegestudent aus Miami, und ein Typ namens Stan Stannell.
Wenn ich zu einer Probe rüber zu Stans Haus ging, saß er immer schon stundenlang in seiner Unterwäsche auf dem Bett, den Fuß auf ein kleines Hockerchen gestützt, und spielte klassische Gitarrenmusik vom Blatt. Er spielte phänomenal, aber wenn man ihm eine elektrische Gitarre in die Hand gab, klang es fürchterlich. Das Einzige, was für ihn infrage kam, war der Bass, aufgrund der Ähnlichkeit zu den klassischen Gitarrentechniken. Er spielte ungefähr ein Jahr lang mit uns und zog dann weiter. Schließlich landete er als Leiter der Gitarrenabteilung am Musikkonservatorium von Boston. In meiner Band spielte vermutlich einer der besten klassischen Gitarristen des ganzen Landes Bass, und ich wusste es nicht einmal.
Unter den weiteren Musikern in den verschiedenen Inkarnationen der Band befanden sich unter anderem ein Schlagzeuger namens Jeff Williams, ein Erstsemester an der Universität, der uns ein paar klasse Auftritte bei Verbindungspartys verschaffte (wir machten falsche Altersangaben); Lee Chipley, ein Saxofonist; und ein Gitarrist und Sänger namens Joe Maestro. Ein Bandmitglied, das buchstäblich kam und ging, war ein junger Mann, der in Gainesville aus heiterem Himmel auftauchte. Er lernte Jeff bei einem Konzert kennen und fragte ihn, ob er ihm einen Platz zum Schlafen empfehlen könne.
„Ich bin dem Typen bei einer Verbindungsparty über den Weg gelaufen“, erzählte uns Jeff eines Tages. „Er kann richtig gut singen und Rhythmusgitarre spielen. Ich finde, wir sollten ihn in unsere Band aufnehmen.“
„Klasse, wie heißt er denn?“, fragte ich.
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