Die Unruhe im Land hinderte ihn nicht daran, seinen Sohn in die feinsten Salons zu schicken. Und so gab Niccolò das gesamte Frühjahr über Privatkonzerte, die Marchese Di Negro organisierte. Er lernte sämtliche Palazzi Genuas kennen, unter anderem den Palazzo Spinola, wo er an kunstvoll geschnitzten Edelholztischen saß, von hübsch verzierten Tellern aß, aus funkelnden Kristallgläsern trank und eine beeindruckende Portraitsammlung des Malers Van Dyck bewundern durfte. Niccolò verspürte großen Respekt beim Anblick der Werke bedeutender Künstler, lieber jedoch schweifte sein Auge in die Ferne oder versank in sich selbst. Darum bevorzugte er von allen Palästen den Palazzo des Marchese. Bevor er spielte oder manchmal auch später, wenn er sich ungesehen davonschleichen konnte, verweilte er im großen Salon des oberen Stockes, öffnete eines der hohen Fenster und blickte in die Weite hinaus. Vor ihm ausgebreitet lag die Stadt, in der er den ersten Atemzug getan hatte. Ein Wirrwarr von Kirchen, Klöstern, mächtigen oder bescheidenen Häusern, geduckten und schiefen Gebäuden. Dort ein einsamer Klostervorbau, von dessen Dach ein eisernes Kreuz in den hellen Himmel ragte, links der Monte Faccio, bei sonnigem Wetter ein glitzernder Diamant, an rauen, stürmischen Tagen ein drohendes Ungeheuer. Waren seine Augen dann vom Anblick gesättigt, nahm er einen tiefen Atemzug und ging zu den Gästen zurück. Niemand wusste, wo er gewesen war, und niemand erfuhr je, was er dachte, wenn sein Blick in eine Landschaft oder ein Gemälde tauchte. Niemand außer einer Person. Sie ließ ihn nie aus den Augen.
11
Wenn es noch hell ist, sehe ich, wie das unendliche Meer, die Küstenlinie, die am Leuchtturm beginnt, allmählich dünner wird, bald wie ein Faden ist, dann meinen Augen entgleitet. Es ist die schöne Straße nach Nizza. Später, in der Dunkelheit, die plötzlich hereinbricht, ohne den sanften Übergang der Dämmerung, flammen in dieser schönen Straße einzelne Lichter auf und die hohe, sich drehende Lanterna draußen am Meer wirft ihr Licht in unsere Richtung, bestrahlt jäh Di Negros Palast, als dränge der Mond kurz durch eine düstere Wolkenschicht, um gleich wieder zu verschwinden und uns in der Finsternis zurückzulassen. Es ist erschreckend. Es ist seltsam. Ich liebe diesen Anblick, im Gegensatz zu vielen Genuesern, die das Licht von La Lanterna bei Nacht meiden. Sie fürchten, von ihm angestrahlt zu werden, bedeute, verhext zu werden.
Der Urturm von La Lanterna ist fast sechshundert Jahre alt. Da ihn aber der französische König Louis XII. bei seinem Eroberungszug bis zur Hälfte zerstört hatte, musste er neu errichtet werden. Das war vor dreihundert Jahren. Seitdem hat La Laterna ihr Aussehen nicht mehr geändert.
Nizza zieht mich magisch an. Mein Vater hat mir eine Schiffsfahrt nach Nizza versprochen, aber das Chaos in Genua wird uns vermutlich abhalten.
Ich spiele das Frühjahr über vor Genueser Adel. Frauen in weißen Schleiern und Galakleidern, Männer in feinen Anzügen und glänzenden Hüten wenden mir ihre erregten Gesichter zu. Atemlose Aufmerksamkeit, verträumte Augen, dröhnendes Klatschen, ungläubige Fratzen, offene Münder, nasse Küsse auf die Wangen. Sie wollen mich erdrücken. Ich habe ihre Herzen aufgewühlt, ihre Sinne entfesselt. Sie wollen mich auffressen. Und ich flüchte, in den Garten, dort wo die Kamelien blühen, und tauche hinein, starre nur noch auf ein Galakleid. Jenes am Himmel, das prächtigste, gewebt aus goldenem, rotem und gelbem Licht. Das Kleid der untergehenden Sonne.
Ein Aufstand im Mai fesselt mich ans Haus. Es heißt, alle Sträflinge wären befreit worden und Napoleon errichte die Ligurische Republik, damit endlich Ruhe einkehre. Ich komponiere und kümmere mich wenig um Napoleon. Befreier oder Unterdrücker? Es fehlt mir die Zeit, darüber nachzudenken. Seine Frau ist mir in jedem Fall lieber. Auch in ihr stecken Besessenheit und Ehrgeiz, aber sie geht nicht über Leichen. Josephine ist mir ähnlich.
Während die Armee des kleinen, ehrgeizigen Korsen Lucca besetzt, stirbt mein Großvater Giovanni. Ich hatte ihn in letzter Zeit so wenig gesehen, dass ich ihn fast vergessen habe. Nun werde ich ihn nie mehr sehen, doch vergessen werde ich nicht.
Wir hören von Rudolph Kreutzers Auftritt in Livorno und bereiten meine nächste Konzertreise vor. Mama hat mich gut aufgepäppelt, ich wiege etwas mehr, mein Gesicht ist runder. Nicht so rund wie das von Paola, aber das würde mir auch nicht gefallen. Bevor es losgeht, ziehen wir nach San Biagio im Polcevera-Tal. Unser neues Haus ist weit vom Zentrum und vom nächsten Dorf entfernt und hat bei klarem Wetter eine wunderschöne Aussicht auf die Umgebung. Vater und ich sehen davon nicht viel, weil der Herbst Nebel und Regen bringt und weil ihm nicht der Sinn danach steht, durch die großen Fenster die Landschaft zu betrachten. Vor allem Vater ist schlecht gelaunt. Schuld daran sind wieder die Franzosen. Vater sagt, wir müssen sie ernähren wie kleine Kinder, dabei werden sie immer frecher, ebenso wie Kinder, die man nicht züchtigen darf. Sie wollen von Gott nichts wissen, aber interessieren sich brennend für die Gemälde, die goldenen Leuchter, Becher, Vasen und Altäre unserer Kirchen. Selbst Giorgio und seine Genossen hätten erkannt, mit welch gespaltener Zunge der französische General vorgehe. Einst waren sie Anhänger des radikalen Filippo Buonarotti, der in Mailand noch für Napoleon auf die Straße ging, dann aber gegen ihn operierte, da der französische General durch den Friedensvertrag mit Österreich die italienischen Patrioten verraten hatte. Mittlerweile stellte sich heraus, dass uns Napoleon nicht nur besetzt, weil er Ländereien, Herzog- und Fürstentümer für seine Brüder und Schwestern braucht – wie Vater sagt –, sondern weil er gegen die Österreicher Krieg führen muss, denen halb Norditalien gehört, wie Giorgio sagt. Eigentlich ist mir das völlig egal und letzten Endes interessieren mich Eroberungszüge nicht, da sie Elend und Angst verbreiten. Nichts von all dem klingt nach Musik und weder das eine noch das andere bewegt mein Gemüt. Es sei denn, es wird übertrieben, wie dies kurz vor Weihnachten geschah. Da nämlich machten die Franzosen wegen der Engländer kurzerhand den Hafen dicht und zerstörten Lagerhallen und Speicher. Viele Packer sind nun arbeitslos und Vater sorgt sich um seine früheren Kollegen. Vielleicht fürchtet er auch, sie könnten zu ihm kommen und ihn anpumpen. Allen ist bekannt, dass meine Konzerte schon ganz schön Geld einspielen.
12
Livorno 1799–1800
… Stille umgibt mich, doch die Ruhe lässt auf sich warten. Vielleicht ist es mein Fluch, nicht zur Ruhe zu kommen …
Bevor das neue Jahr anbricht, nehmen wir die Konzertreisen wieder auf. Außerhalb Genuas soll es ruhiger sein, wird gemunkelt, und tatsächlich treibt sich in Livorno kein einziger Franzose herum. Vater ist bester Laune. Er mäkelt nicht, reißt auch nicht meinen Ellbogen hoch, den ich beim Spielen viel zu dicht an meinem Körper halte, und nimmt mich mit in gute Wirtshäuser. Und er spricht wieder von einer neuen Geige. Das wirkt sich sehr positiv auf meine Gemütsverfassung aus und natürlich spiele ich dann viel besser. Meine Geige und ich sind ein Herz und eine Seele, und wenn es Letzteren prima geht, leisten meine Violine und ich Großes.
So unterläuft Vater in Livorno ein Fehler, der mir zugute kommt, aber nur, weil ich übermütig bin und mir eigentlich immer etwas einfällt. Vater hatte nicht daran gedacht, die Società Degli Esercizi Musicali kniefällig darum zu bitten, mir die Gunst zu erweisen, vor ihrer erlauchten Privatgesellschaft mein erstes Konzert in Livorno zu geben. Da uns der britische Konsul schon einen Saal verschafft hatte und ich dank Mundpropaganda und einigen Zeitungsartikeln bekannt bin, möchte ich zuerst vor dem Volk spielen. Aber das passte diesen Schurken von der Privatgesellschaft Degli nicht – Vater nennt sie Schurken – und sie verwehrten den Musikern den Zugang zum Theater. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft haben, abgesehen von ein paar verängstigten Gestalten, das ganze Orchester von mir fernzuhalten, jedenfalls sieht es so aus, als stehe mir ein einsamer Auftritt vor einem vollen Saal bevor. Durch den Schlitz im Vorhang erkenne ich ein heiteres schwatzhaftes Volk, das nur darauf wartet, sich über den gefoppten Genueser Violinisten halbtot zu lachen. Denen werde ich es zeigen. Ich bin ja so froh, dass ich nicht auf meinen großen Kopf gefallen bin, sonst würde ich solche Situationen nicht überstehen. In Windeseile stelle ich mit der Flöte, der Klarinette und der Gitarre, die sich durchgeschlichen hatten, eine Begleitung zusammen und ändere natürlich ebenso schnell mein Programm. Ich bin achtzehn und ein Zauberer. Schon nach zehn Minuten Musizieren schwatzt kein Zuschauer mehr und nach dem zweistündigen Konzert springen die Leute von ihren Stühlen und verlangen da capo. Ich muss mir noch einiges aus dem Ärmel schütteln. Eine weitere Stunde lang spielen wir Stücke von Kreutzer, Rode, Viotti und einige meiner Kompositionen, unter anderem mein jüngstes Werk für Gitarre solo. Die Lodoiska-Symphonie entzückt das Publikum, es ist ja ganz und gar nicht auf meine Gitarrenkünste gefasst. Die Melodie habe ich der Kreutzerschen Oper entnommen und das Ganze für französische Gitarre arrangiert. Ich weiß, es ist eine schwierige Komposition, aber davon merken diese Menschen nichts. Es sind einfache Leute, die nicht viel von Musik verstehen. Dennoch sind sie wunderbar, sie sind hemmungslos vor Freude. Mein Erfolg sprengt die Blockade. Er sprengt den Widerstand der Società. Am folgenden Tag entschuldigt sich die blasierte Privatgesellschaft und kündigt ein zweites Konzert für den Abend an. Diesmal mit kompletter Orchesterbegleitung.
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