Wir verbrachten den Winter in Parma. Vater telegrafierte Carlo, er solle sich gut um die Familie kümmern und Mama sagen, dass ich mich gut entwickele, leider aber noch immer dünn wie ein Spaten sei. Carlo telegrafierte zurück, ihm gehe bald Vaters Geld aus, Niccolò aber solle kräftiger essen und weniger üben, denn würde ich verhungern, sei alle Mühe umsonst gewesen. Vater warf das Telegramm wütend auf den Boden.
Ich ging fleißig zu Fernando Paër wegen der Kompositionslehre, denn davon versprach ich mir sehr viel. Und dank Ghiretti fiel mir auf, was für eine außerordentliche Null im Kontrapunkt ich doch war. Ich musste noch tüchtig an mir arbeiten, um vollkommen zu werden. Nur manchmal und auch nur, wenn Vater in der Stadt unterwegs war, legte ich die Geige weg und lehnte am Fenster. Der Marktplatz war wie ausgestorben und hatte ich im Herbst noch Vogelstimmen gehört, so lag jetzt eine gläserne Stille über allem. Selbst der Wind heulte nicht mehr in den Winkeln und Nischen der Häuser. Und diese äußere Stille, die an die unheimlich Ruhe auf dem Land im ersten Morgengrauen denken ließ, wurde in meinem Kopf zu einem Konzert. Ich lauschte in mich hinein und vernahm viele unterschiedliche Melodien. Manche hatten einen kantiblen Charakter, andere wiederum machten Bocksprünge, andere klangen wie verstimmte Geigen. Ich hörte sie ganz klar, spürte ihnen nach, ergriff sie, ließ sie reifen. Reifen, saftig werden, zu einem enormen Klanggebilde wachsen, das meine Brust zerriss. In dem Augenblick stürzte ich auf die Musikhefte und goss die Musik in meinem Inneren aufs Papier. Danach ging es mir sehr gut, dennoch erschrak Vater jedes Mal über mein Aussehen, wenn er zurückkam. Und schnell ging es wieder hinaus ins Freie, egal wie kalt die Luft zum Atmen war. Er zeigte mir den Palazzo della Pilotta, vermutlich weil er glaubte, ich müsse mich auch an Theaterluft gewöhnen. Wo er mich jedoch hinführte, stank die Luft nach Moder und schmeckte sie nach Erde. Feucht, klamm, wie erstarrt, so fühlte es sich an, in diesem verlassenen Theater. Auf den verschimmelten Sitzplätzen lungerten Ratten und die Bretter der Bühne glänzten schmierig. Wie beim letzten Mal, in der unterirdischen Kirche, zog ich ihn am Mantel und zerrte ihn hinaus. Ich fühlte mich einsam, heimatlos und Orte wie diese vertieften die Trauer in meinem Herzen. Dann sehnte ich mich besonders nach meiner Geige. Sobald wir zurück in unserem Zimmer waren und Vater sein Schläfchen hielt, wollte ich ein wenig mit ihr plaudern.
8
Filippo Buonarotti war nach kurzem Frankreich-Aufenthalt, wo er sich Anregungen und geistige Nahrung für den italienischen Aufstand geholt hatte, zurück bei seiner Frau Francesca und seinem Sohn Andrea. Er blieb drei Tage im Haus in Carrara, aß genüsslich die würzige Pasta und trank vom toskanischen Wein. Seine Gedanken hingegen flohen immer wieder zu der neuen Arbeit. Er sollte als Kommissar in der Republik Oneglia fungieren, zögerte jedoch, Francesca von der Notwendigkeit eines Umzugs zu überzeugen. Natürlich steckte hinter seinem Zögern nicht nur die Furcht vor ihrem Gezeter – sie war vernarrt in die Toskana und wollte sie nicht verlassen –, ihm graute auch vor ihrer Reaktion, entdeckte sie den wahren Grund des Umzuges. Deshalb machte er sich zunächst allein auf den Weg. Hätte er in Oneglia erst einmal ein hübsches Häuschen erworben, würde er sie locken und zerstreuen können. An Geldmitteln fehlte es ihm nicht. Seine französischen Gesinnungsgenossen hatten ihn großzügig ausgestattet, verlangten allerdings als Gegenleistung, unter dem Deckmantel des politischen Kommissars in Oneglia ein jakobinisches Hauptquartier zu errichten.
Glücklicherweise erfuhr Francesca davon zunächst nichts. Ihr Zetermaul aber war durch den Hauskauf gestopft und statt lästige Fragen zu stellen, jubilierte sie über den finanziellen Aufstieg ihres Mannes. Der fünfjährige Andrea wiederum hätte gerne Fragen gestellt. Es interessierte ihn, wohin sein Vater ging, wenn er nachts das Haus verließ, er folgte ihm mit den Augen, lauschte auf seine Worte, wenn abends Freunde kamen, mit denen er in einem Zimmer verschwand. Bewundernd sah er an ihm hoch, weil er die Bewunderung und den Respekt der anderen für seinen Vater spürte. Manchmal nahm Buonarotti seine kleine Familie zu Versammlungen mit, aber nur, weil die Mitglieder mit Essen und Getränken versorgt werden mussten, wofür sie Frauen brauchten.
Bei einer dieser Versammlungen – es war im März 1795 – lernte Andrea die vierjährige Carlotta Servetto kennen. Die Kleine war von Anfang an dabei, da Giorgio immer mit Frau und Kind nach Oneglia kam. In Signora Servetto wütete der Kampf um ein unabhängiges Italien mehr als in Giorgio. Sie hasste Kaiser Franz, schimpfte ihn einen Barbaren, unfähig und unwillig, die italienische Kultur und Mentalität zu begreifen oder ihr entgegenzukommen. Ein Haustyrann im Schlafrock und Käppchen, so nannte sie ihn. Als einzige Frau unter den Männern lockerte sie die ernsten Gespräche mit frechen Reden auf, während die Kinder unterm Tisch miteinander Bekanntschaft machten.
Als Buonarotti ein Jahr zuvor von Robespierres Hinrichtung erfahren hatte, war es ihm kalt den Rücken hinuntergelaufen, aber es war ihm nicht der Gedanke gekommen, eines Tages selbst ein Opfer der neuen französischen Regierung zu werden. Ahnungslos hatte er im Königreich Neapel, in der Lombardei, in Ligurien, doch vor allem im Piemont Unterschriftenlisten verteilen lassen, die mit einem für ihn verhängnisvollen Satz endeten: Die Zeit ist reif, dass die Perücken von unseren Händen gekämmt werden. Anlässlich seines Aufenthalts in Menton wurde er verhaftet und als Anhänger Robespierres bei Wasser und Brot eingesperrt. Der Freiheitsentzug sollte sein rebellisches Blut beruhigen, aber Buonarotti zürnte nun erst recht. Wieder auf freiem Fuß stürzte er sich erneut in die Arbeit. Dank der Gelder der französischen Genossen und der Hilfe seiner Freunde konnte er sein Programm radikalisieren. Der junge Andrea zählte zu seinen treuesten Anhängern.
9
Antonio war froh, in Parma zu sein und weder dem Dottore noch Giorgio zu begegnen. Die in seinen Augen Verblendeten hatten sich einer von Buonarotti ins Leben gerufenen Organisation verschrieben, die mittlerweile einen Namen trug, aber noch stets aus einem Haufen orientierungsloser, begeisterter junger Männer bestand, dem die Konsequenzen seiner Rebellion nicht bewusst war. Sie nannten sich Jakobiner, sangen „La Carmagnola“ und trugen die phrygische Mütze. Weder Geldstrafen noch die Drohung, dafür im Gefängnis zu landen, hielten sie zurück. Antonio wollte davon nichts wissen. Er wünschte Ruhe und Sicherheit, um mit Niccolò ungestört Konzertreisen machen zu können. Die Zeiten waren gefährlich, überall brodelte es. Gleichzeitig schien das Land fest im Griff der herrschenden Dynastien und der Kirche zu sein. Aus diesem Grund bangte Antonio auch um Freund Giorgio, der mittlerweile geheiratet und eine Tochter bekommen hatte. Italiens Herrscher waren gewarnt und beugten der Machtergreifung rebellischer Elemente mit schauerlichen Maßnahmen vor. In Neapel wurde ein junger Mann vom Klerus zu einem grässlichen Tod verurteilt, weil er in einer Kirche „Vive Paris, vive la liberté“ geschrien hatte. Sein eigenes Pferd musste ihn so lange durch die Straßen schleifen, bis ihm die Haut in Fetzen hing. Dann schnitt man ihm die Zunge heraus, die Hände ab und knüpfte ihn auf. Sein gesamtes Eigentum ging an die Kirche.
„Diese Verrückten hoffen auf Napoleon als den Retter Italiens!“, zischte Antonio vor sich hin. „Unter seiner starken Hand solle das Land zusammenfinden, würden die Bewohner leichter untereinander handeln, gewinnträchtig verkaufen, sich zu einem gesunden Ganzen entwickeln.“ Er spuckte verächtlich aus. Blutige Aufstände ohne klares Ziel waren an der Tagesordnung. Die einen nahmen Kirche und Christen ins Visier, andere die Juden und Bürger, wieder andere die Reformisten und manche die Franzosen, weil sie diese als neue Fremdherrscher fürchteten.
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