„Tun Sie, was in Ihrer Macht steht, ich zahle alles. Er muss wieder auf die Beine kommen.“
„Sollte er auf die Beine kommen, müssen Sie ihm unwiderruflich einen Monat Ruhe gönnen, sonst könnten Sie die Geige bald für horrende Panache verkaufen.“
„Ich bitte Sie um etwas mehr Pietät, Dottore! Sie sind doch Katholik. Mein Sohn ist nicht nur ein Genie, er ist auch ein Stehaufmännchen. Schon zweimal hat er dem Tod die Tür gewiesen.“
„Sehr schön! Das zeugt von starkem Lebenswillen. Hier schreibe ich Ihnen auf, was der Pharmazeut mischen soll.“ Er kritzelte ein paar unleserliche Worte auf seinen Notizblock und reichte Antonio den Zettel. „Fiebersenkende und schleimlösende Mittel und einen hustenstillenden Sirup. Sie, Signore, sorgen dafür, dass er im Bett bleibt, die Geige nicht anrührt und sehr, sehr viel trinkt. Natürlich, bei Santa Maria, kein Brunnenwasser. Übersteht er die nächsten vier Tage und ist am fünften wohlauf, darf er zurück nach Genua. Und …“,
er hob drohend den wurstigen Zeigefinger seiner riesigen Hand, „drei bis vier Wochen Ruhe, gutes Essen, Spaziergänge in der Bucht von Genua, falls es Buonaparte erlaubt.“
Buonaparte, klein geratener Sohn verarmter Adeliger, geboren in bescheidenen Verhältnissen eines rückständigen Korsikas, das unter der Rivalität und endlosen Vendetta der Clans verfaulte, sprach den korsischen Dialekt und strebte nach Höherem. Als Zehnjähriger trat er in die Militärschule ein, verließ sie mit fünfzehn als Leutnant, avancierte zum Oberfeldwebel und erhielt den Auftrag, Toulon aus englischer Hand zu reißen. Die Stadt fiel und Buonaparte, inzwischen vierundzwanzig, wurde zum General ernannt. Anschließend trieb er sich wie alle Generäle in Paris herum, entkam der Säuberungsaktion des Terrorregimes und warf den Royalistenaufstand gegen das Direktorium nieder. Zur Belohnung unterstellte man ihm die italienische Armee. Gleich anfangs ließ er sich die standhaftesten Verfechter der italienischen Befreiungsidee vorführen, unter anderen einen gewissen Buonarotti, den er aus dem Gefängnis holte und zum Chef der italienischen Patrioten auserkor. Noch im selben Jahr änderte Oberbefehlshaber Buonaparte seinen Namen in Bonaparte und heiratete Josephine de Beauharnais.
Vor dieser Josephine, die nun Bonaparte hieß, spielte Niccolò am 27. November 1797. Er fühlte sich besser, wenn auch wohl nicht ganz gesund, denn seine Beine zitterten immer noch ein wenig und der Husten quälte ihn nur dann und wann. Die Genueser Luft jedoch vollbrachte Wunder. Und vor allem Mama. Sie wachte mit Argusaugen darüber, dass er sich nicht verausgabte, viele Kräutertees trank, seine Medikamente einnahm, solange sie nötig waren, und nur bei Sonnenschein spazieren ging. Ja, sie sorgte sogar für saubere Bettwäsche, was Niccolò sehr schätzte. Bis jetzt hatte die saubere Wäsche nie sauber gerochen, da sie Teresa im öffentlichen Waschbecken, vielleicht auch in irgendeinem Fluss oder Rinnsal schrubbte und am Fenster des Hauses der stinkenden Passo di Gatta trocknete. Bald jedoch, ja bald würde sie köstlich riechen, denn der Vater beabsichtigte, ein Haus im Polcevera-Tal zu kaufen.
10
Üblicherweise wurde der Herbstbeginn von den Genuesern gefeiert. Die Läden schlossen auch unter der Woche, die Kirche und manche Häuser erstrahlten im Lichterglanz aufgestellter oder in die Mauern eingelassener Fackeln. In diesem Jahr waren die Gemüter durch die französische Besatzung verwirrt und die politische Situation erschüttert. Jene, die in Napoleon den Tyrannen witterten, rotteten sich zu einem Aufstand zusammen, die anderen stellten Wachskerzen an die Fenster, weil sie noch immer an den Befreier glaubten. Giancarlo Di Negro lud an einem klaren Novembertag zur festlichen Begrüßung und Ehrung Josephine Bonapartes in seine Residenz in der Via Lomellini ein. Der Palast lag inmitten einer bewohnten Straße, hatte aber einen traumhaften Garten im Innenhof. Schmale, von Orangen- und Zitronenbäumen begrenzte Pfade wanden sich hindurch und im Sommer verströmten die Kamelienhaine einen Duft, der jetzt im November noch zu erahnen war. In den hohen, stuckverzierten Räumen hingen wertvolle Gemälde, über den Türen prangten Allegorien als Goldintarsien und die marmornen Säulen leuchteten cremefarben. Am schönsten war der Blick aus den hohen Fenstern im oberen Stockwerk. Ein Teil Genuas, der Hafen und das Meer lagen ruhig und wie gemalt dem Betrachter zu Füßen.
Eigentlich stand den Di Negros der Sinn nicht nach Feiern. Vor nicht ganz zwei Wochen war die Villa von Emilia Di Negros Schwester bis auf die Grundmauern niedergebrannt und hatte unter ihrer Asche das Ehepaar, den Liebhaber der Schwester und eine Köchin begraben. Zufälligerweise führte das Kindermädchen trotz kühlen Wetters die dreijährige Margherita auf der Strandpromenade spazieren, wodurch ein einziges Familienmitglied überlebte. Giancarlo hätte ohne mit der Wimper zu zucken die berüchtigten Carbonari verdächtigt, wären er und sein Schwager nicht selbst Novatori, Adelige, die den Ideen der Carbonari nahestanden. Einen gewissen Giorgio Servetta hatte Giancarlo bei einer Versammlung in Oneglia mit „buon cugino“ angesprochen und ihn nach Buonarotti gefragt. Eine zufriedenstellende Antwort hatte er damals nicht erhalten, aber zumindest hatte er in Giorgio einen, wenn auch zögernden, Carbonaro erkannt.
Das Testament der im Liebesrausch Verbrannten ermächtigte Margherita zur Universalerbin eines enormen Vermögens und erteilte der Familie Di Negro die Vormundschaft. Bis zu ihrem sechzehnten Lebensjahr sollte Giancarlo ihr Erbe verwalten. Niemand überraschte es, das Ehepaar und den Liebhaber gemeinsam vereint auch im Tode vorzufinden. Emilias Schwester war für ihr ausschweifendes Liebesleben bekannt, dessen Quintessenz es war, zwei Männer zur selben Zeit ins selbe Bett einzuladen.
Anlässlich des Herbstfestes spielte der berühmte Rudolph Kreutzer. Di Negro freilich fieberte danach, Josephine Bonaparte seine große Entdeckung vorzustellen. Und tatsächlich riss Josephine die Augen auf. Zunächst vor Schreck. Niccolò war von der Krankheit gezeichnet. Er wirkte abgezehrt, hatte Ringe unter den Augen und eingefallene Wangen. In seinem Blick jedoch funkelte ein geheimnisvolles Feuer, von dem sich Josephine bezaubern ließ.
Weihnachten feierte Niccolò im Kreis seiner Familie. Paola war innerhalb eines Jahres sehr gewachsen. Sie hatte ein rosiges Gesicht, volle Wangen und die gleichen dunklen Haare wie Niccolò. Der vier Jahre ältere Bruder Carlo überragte den jüngeren um einen Kopf. Auch Carlos Brust konnte sich sehen lassen, seine Schultern waren breit, sein Gesicht rund wie das der Mutter. Er war nicht neidisch auf den Bruder, obwohl auch er gerne Geige spielte. Er neidete ihm weder seine rasche Auffassungsgabe noch sein feines Ohr. Er neidet ihm nichts weiter als den zärtlichen Blick der Mutter. Teresas Gesicht leuchtete vor Stolz und Freudentränen glänzten in ihren Augen, sobald sie Niccolò in die Arme schloss.
Indessen rebellierte im Hinterland eine Allianz aus Adel, Kirche und Bauern gegen die Besetzer, während die Novatori für Napoleon mobilmachten. Auf den Wegen zur Stadt oder unter den Brücken verbluteten Franzosen, Novatori und Bauern. Hin und wieder lag ein Mönch dazwischen, von einer Hacke erschlagen oder einer Gabel durchbohrt.
Was die Mönche betraf, hatte Antonio kein Mitleid. Sie waren ihm oft in den Straßen von Genua begegnet und entsetzten ihn durch ihr abstoßendes Äußeres. Manchmal blieb er wie vom Donner gerührt stehen und grübelte darüber nach, warum gerade Gottesdiener so niederträchtig aussahen. „Heißt es nicht, Gesichter und Augen spiegeln Seele und Charakter wider? Wenn es so ist, müssen Leute dieses Standes zwangsläufig verschlagen, stumpfsinnig und träge sein“, resümierte Antonio.
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