Wir hatten den Arzt zwar den Worten nach verstanden, doch die durchaus schockierende Bedeutung seiner Diagnose sickerte erst langsam in unser Bewusstsein. Wir zeigten zu unserer eigenen Überraschung keine größere Gefühlsregung, und so ermahnte der Lungenfacharzt Silvia noch einmal nachdrücklich beim Abschied: „Bitte denken Sie daran: Sie fahren, sofort, und nicht Ihr Mann!“
Als wir das Behandlungszimmer verließen, schauten Silvia und ich uns ziemlich ernst an und wussten: Das ist kein Spaß mehr. Wir konnten uns nichts mehr vormachen. Die Diagnose war gnadenlos ehrlich. Ich könnte tot sein?! Das saß.
Unser Sohn spürte gleich, dass etwas mit Mama und Papa nicht stimmte. Wir erklärten ihm, der Doktor habe gesagt, dass wir direkt ins Krankenhaus fahren müssten. Jan weinte im Fahrstuhl auf dem Weg nach unten ziemlich heftig, obwohl wir ihm natürlich nicht die ganze Wahrheit gesagt hatten. Aber es gelang uns, unser Kind zu beruhigen. Wir behaupteten, es sei nur noch eine Untersuchung zu machen, die nicht lange dauern werde. Auf jeden Fall fuhren wir auf die unmissverständliche Warnung des Arztes hin auf direktem Weg und ohne vorher wegen des Pyjamas nach Hause zu fahren, geschweige denn irgendwelche anderen Sachen zu holen, ins Krankenhaus. Wir gingen auf die Station, die uns der Arzt genannt hatte. Wir wurden dort bereits erwartet. Ein weiterer Arzt nahm uns freundlich in Empfang. Erneut wurden dieselben Untersuchungen gemacht: Lungenfunktionstest und Blutabnahme. In uns keimte die leise Hoffnung auf, dass vielleicht ein Irrtum vorläge und die vorherigen Messungen fehlerhaft seien. Doch das Ergebnis war ein weiteres Mal ernüchternd: „Wie mein Kollege Ihnen vorhin schon gesagt hat, sind Sie in einem Zustand, in dem Ihre Frau und ich“, so sagte der Arzt, „schon nicht mehr am Leben wären. Also bitte, Herr Kaiser, jetzt geht’s los! Sie müssen sofort nach oben auf die Station.“
Silvia bewahrte die Fassung. Das half mir selbst sehr, mit der Situation klarzukommen. Nachdem ich zur Einweisung auf die Station aus dem Zimmer geführt worden war, fuhr Silvia nach Hause und ließ Jan bei unserer Nachbarin, einer lieben Freundin der Familie. Besonnen und umsichtig packte sie meine Reisetasche mit dem Nötigsten – natürlich vergaß sie auch meinen Pyjama nicht. Währenddessen wurde ich direkt auf die Intensivstation verfrachtet. Wie ich dort hinkam, wer mich begleitete, daran erinnere ich mich nicht mehr genau. Denn ich war schon sehr, sehr müde und das Ganze erschien mir eher wie ein Albtraum als real. Ich fügte mich einfach.
Als Silvia nach knapp einer Stunde wieder ins Krankenhaus zurückkam, fragte sie an der Pforte nach meinem Zimmer. Wie sie mir später erzählte, sagte man ihr daraufhin, sie müsse in die zweite Etage fahren und von dort ins Nebengebäude hinübergehen. Die Intensivstation! Das war für Silvia natürlich ein Schock.
Wer schon einmal eine Intensivstation besucht hat, weiß, wie beklemmend die Atmosphäre dort ist. Allein die endlos lang erscheinende Fahrt im Aufzug fällt schwer, die Ungewissheit tut ihr Übriges. In die Intensivstation kann man auch nicht einfach hineinspazieren und dem Patienten Blumen und Pralinen ans Bett bringen. Die Stationstür war verschlossen. Silvia musste klingeln und sich über eine Sprechanlage anmelden. Eine Schwester kam daraufhin zur Tür und forderte sie auf, einen sterilen Kittel überzuziehen. Erst danach führte man meine Frau zu mir. Der Anblick, den ich mittlerweile bot, war für sie alles andere als einfach zu verkraften: Da lag ihr Mann an Dutzende Schläuche und an eher bedrohlich als beruhigend wirkende Atmungsgeräte angeschlossen. Ich wurde zusätzlich mit Sauerstoff versorgt. Die Apparate kontrollierten ständig, ob und in welchem Maß sich die Sauerstoffwerte in meinem Blut veränderten.
Als Silvia und ich uns wieder einigermaßen gefasst hatten, bemühten wir uns – soweit es in dieser Ausnahmesituation überhaupt möglich war –, uns ruhig und gefasst zu unterhalten. Ich sollte und durfte mich nicht aufregen. Es ist unglaublich schwer, von 100 auf 0 heruntergebremst zu werden und dabei nicht den gesunden Menschenverstand zu verlieren. Mitten aus dem Leben heraus, von jetzt auf gleich mit dem Tod konfrontiert zu werden ist Wahnsinn! Es war wie in einem verdammt schlechten Film. Zumal mir das Atmen nach wie vor unverändert schwerfiel, obwohl man mir Inhalationssprays gab und irgendwelche anderen medizinischen Hilfen, die mir das Luftholen erleichtern sollten. All diese Sofortmaßnahmen führten jedoch nicht zu einer spürbaren Besserung. Ziel der Behandlung war es vielmehr, den Sauerstoffgehalt im Blut nach und nach bis zu einem normalen Sättigungsgrad zu erhöhen. Das gelang nur über Stunden und über die direkte Zufuhr von Sauerstoff.
An meine erste Nacht auf der Intensivstation kann ich mich selbst nur schemenhaft erinnern. Ich greife auf Silvias Erzählungen zurück: Die kommenden Stunden waren, gelinde gesagt, nicht ohne. Da sich mein Kreislauf und der Sauerstoffgehalt erst langsam stabilisieren mussten, war mein Zustand über die Nacht nicht unkritisch. Erst im Laufe des nächsten Vormittags verbesserten sich die Werte langsam, aber sicher und stabilisierten sich. Ich war außer Gefahr! Und atmete zum ersten Mal nach Tagen wieder befreit durch. Es war mittlerweile Freitag, der 14. Juli 2000.
Diagnose COPD
Sobald ich über den Berg war, teilte mir der behandelnde Professor mit: „Sie haben eine COPD.“ Nun waren das für einen Laien wie mich zunächst nicht mehr als, tja, vier Buchstaben, die mir nicht allzu viel bis gar nichts sagten. Ich folgte den Worten des Arztes und versuchte zu verstehen: Ein Lungenemphysem, davon hatte ich schon einmal gehört. Überblähung der Lunge – was bitteschön sollte das sein? Und in letzter Konsequenz stehe dann, so sagte er, die COPD – die chronisch obstruktive Bronchitis. Das klang auch nicht wirklich bedrohlich. COPD habe zur Folge, fuhr er fort, dass man in dem Augenblick, in dem man die Atemnot zum ersten Mal bewusst verspüre, das Gefühl habe, nicht mehr durchatmen zu können. Genau wie bei mir! Man bekomme nicht mehr genügend Luft und alles, was man tue, selbst die geringste Anstrengung, führe sofort zur Atemlosigkeit.
Diese Diagnose, diese Erkenntnis bereitet einem alles andere als Freude. Ich suchte direkt den Ausweg und fragte den Professor: „Ja, verstanden. Das ist jetzt einfach so. Aber wie steht es mit der Behandlung der Krankheit? Und was kann man tun, damit sich dieser Zustand wieder verbessert, die Atemnot weggeht?“ Der darauf folgende Satz war ein Wendepunkt meines Lebens. Der Professor sah mir in die Augen und sagte: „COPD ist nicht heilbar.“ Dieser eine Satz „Das ist nicht heilbar“ ließ mich mehr als nur schlucken. „Das ist nicht heilbar“ klang in mir nach wie: Es kann nicht wahr sein, dass du jetzt etwas hast, was nicht mehr weggeht. Doch erst tags darauf traf mich diese Einsicht ziemlich massiv. So lange brauchte ich, um die Tragweite der Diagnose zu verstehen. Mit dieser Erkenntnis war ich in meinem Krankenhauszimmer erst einmal alleine. Ich musste mich an den Gedanken gewöhnen, eine trotz des fortgeschrittenen Stands der heutigen Wissenschaft nicht heilbare Krankheit zu haben.
Nach der Diagnose war da zunächst natürlich viel Verzweiflung. Für Silvia und mich brach eine Welt zusammen. In den ersten Tagen war ich bemüht, mich irgendwie mit dieser Krankheit zu arrangieren. In langen Gesprächen mit Silvia versuchte ich, die Diagnose COPD zu verarbeiten und für mich persönlich und in unser Leben einzuordnen. Wir führten noch im Krankenhaus lange Gespräche mit dem Arzt, wollten in erster Linie verstehen, was COPD eigentlich genau bedeutet. Doch wir konnten keine für uns erschöpfenden Antworten finden. COPD blieb abstrakt, eine wissenschaftliche Bezeichnung. Außer der soeben überstandenen Bedrohung hatte COPD noch keinen Bezug zu unserem Leben. Und mit dem Jenseits wollte ich mich, gerade erst aus der Intensivstation entlassen, in letzter Konsequenz schon gar nicht ernsthaft beschäftigen. Ich stellte mir diese Frage schlicht und einfach nicht. Ich versuchte, meine innere Ruhe zu finden, mich mit der Todesperspektive zwar abzufinden, aber sie nicht als greifbare Option anzunehmen.
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