»Liebes, willst du nicht endlich hereinkommen? Es wird kühl«, fragte eine Stimme liebevoll hinter Isabellas Rücken.
Sie drehte sich schwungvoll zu ihrer Mutter um.
»Nur noch ein paar Minuten, mamma . Sieh selbst, in der Dunkelheit leuchtet die Insel fast wie ein Kreuzfahrtschiff. Sie hat jetzt gar nichts Unheimliches mehr an sich. Wie gerne wäre ich dort drüben und würde mitfeiern.«
Nieves Rossi bekreuzigte sich, drehte die Augäpfel heraus.
»Auf gar keinen Fall, niemals! Anfangs sieht es immer so aus, als würde einem neuen Besitzer auf La Gaiola mehr Glück beschieden sein als seinen bedauernswerten Vorgängern. Bis eben der Inselfluch wieder zuschlägt. Bleib mir bloß fern von diesem gefährlichen Ort, hörst du?«
Der Teenager verdrehte die Augen. Nicht schon wieder diese Diskussion! Seit sie laufen konnte, warnte ihre überfürsorgliche Mutter sie nahezu täglich vor der Insel. Wenn ihre Freunde dort schwimmen gingen, durfte sie nie mitkommen.
Ein paarmal hatte sie sich dem Verbot allerdings widersetzt, war einmal sogar mit ihrer besten Freundin in die kleine Grotte gegangen, die am Fuße der Inselhälfte mit der Villa lag. Man konnte sie leicht vom Bootsanleger aus erreichen. Ein behördliches Schild der Region Kampanien hatte damals davor gewarnt, dass das Betreten der Grotte bei Hochwasser gefährlich werden könnte. Aber als Einheimische wusste sie natürlich, wann mit der Flut zu rechnen war.
Nichts Ungewöhnliches war bei der kurzen Erkundung passiert, auch wenn den beiden Mädchen ein wenig mulmig zumute gewesen war. Dieselben Felsen wie an der Küste des Festlandes
– keine Totenköpfe, kein gar nichts. Langweilige Sache. Inzwischen war das Schild verschwunden und ein Gitter versperrte den Zugang zur Treppe, die nach oben zur Villa führte. Auch die Grotte war abgesperrt. Statt des Warnschildes prangte da eine Tafel, die in mehreren Sprachen darauf hinwies, dass die Insel Privatbesitz und Unbefugten das Betreten streng verboten sei. Das gesamte Areal werde von Kameras überwacht und sei mit einer Alarmanlage gesichert. Was also sollte einem dort nun noch geschehen können?
»Mamma, du bist ein unverbesserlicher Angsthase!«, lachte Isabella und warf ihren Kopf wie ein ungestümes Wildpferd in den Nacken. Dieser Vergleich passte schon wegen ihres kräftigen braunen Haares, das sie zum Pferdeschwanz gebunden trug.
»Der neue Eigentümer soll Geld wie Heu haben, kann sich bestimmt die aktuelle Sicherheitstechnik leisten. Man sagt doch immer, Licht vertreibe Geister, oder? Dann müssten jene dort drüben in diesem Moment schreiend zurück in die Hölle flüchten. Die Insel ist bis in den letzten Winkel beleuchtet«, kicherte das Mädchen achselzuckend.
Doch ihre Mutter blieb todernst, bekreuzigte sich wieder.
»Versündige dich nicht, mein Kind! Das ist übrigens nicht der erste reiche Schnösel, den diese Insel gesehen hat. Leider lebt Opa inzwischen nicht mehr. Der hätte dir so einige Geschichten erzählen können … schließlich hat auch er sein ganzes Leben in diesem Haus hier verbracht. Dein Urgroßvater Fabio hatte es einst mit seinen eigenen Händen erbaut.«
Isabella war Feuer und Flamme. Sie liebte Gruselgeschichten über alles, und ganz besonders diejenigen über La Gaiola.
»Och bitte, erzähle mir davon!«, bettelte sie. Nieves seufzte tief, schien nachdenken zu müssen.
»Es handelt sich um eine alte storia aus den 1950-er Jahren. Mein Vater hat beim Abendessen oft von der Insel berichtet, als ich noch ein Kind war. Ich weiß nicht, ob ich die Ereignisse von damals noch richtig zusammenbekomme, an jedes Detail erinnere ich mich bestimmt nicht mehr. Es ist einfach zu lange her.« Die glänzenden Augen ihrer einzigen Tochter erweichten ihr Herz, und Nieves wurde klar, dass sie ums Erzählen nicht herumkommen würde.
1959
Der Exzesse peinliches Ende
»In den 1950-er Jahren gehörte La Gaiola einem verschrobenen Schriftsteller aus der Schweiz. Er soll auf der Insel durchgedreht sein, sich 1958 in einer psychiatrischen Klinik sogar das Leben genommen haben. Über diesen Sandoz hatte Opa wenig mitbekommen, schon weil er sehr zurückgezogen gelebt und seinen Fuß selten aufs Festland gesetzt hat. Aber danach ging es rund auf der Insel.
1959 kaufte sie ein reicher tedesco namens Paul Karl Langheim, der sehr viel Geld in der Stahlindustrie gemacht hatte. Er lebte eigentlich in Deutschland, wollte auf der Insel zunächst lediglich rauschende Feste abhalten und faule Wochenenden verbringen. Er hatte sie als Prestigeobjekt erworben, als kleine Extravaganz
– zu mehr sollte die Immobilie nicht dienen.
Es dauerte jedoch nicht allzu lange, und er zog ganz in die Villa um. Er konnte es sich finanziell anscheinend leisten, einem Geschäftsführer die Leitung seiner Firmen zu übergeben, selbst nur noch den stinkreichen Lebemann zu spielen.
Und das tat er wirklich. Er gab eine rauschende Party nach der anderen, lud die ganze feine Gesellschaft von Napoli dazu ein. Opa meinte, dass auch der eine oder andere Mafioso unter den regelmäßigen Gästen gewesen sei. Er hat die Leute, die dort einund ausgingen, oft genug mit eigenen Augen gesehen, musst du wissen. Schließlich besaß er damals eine Eisdiele, und Langheim bestellte häufig Desserts bei ihm. Manchmal jammerte Opa, wie schwierig es im Hochsommer gewesen sei, die Eisspezialitäten in gefrorenem Zustand dort hinüber zu bekommen.
Aber ich schweife ab.
Jedenfalls wurden die Feste des Industriellen immer ausgefallener und damit kostspieliger. Für seine Geschäfte in Deutschland interessierte er sich dagegen praktisch gar nicht mehr. Jedermann beneidete ihn um sein leichtes Leben, versuchte davon zu profitieren.
Unmerklich wendete sich das Blatt. Die Feierwut des ehrgeizigen Herrn wurde zur krankhaften Obsession. Er definierte sich nunmehr ausschließlich über werthaltige Besitztümer wie Teppiche, teure Uhren und Antiquitäten, und natürlich seine Feste. Je außergewöhnlicher diese ausfielen desto besser.
Sobald jedoch Zeitungsartikel über ihn und seine Aktivitäten für seinen Geschmack zu mickrig ausfielen, sich eine hochgestellte Persönlichkeit trotz Einladung nicht blicken ließ oder es ihm auf Auktionen nicht gelang, ein teures Liebhaberstück zu ersteigern
– all das war dazu geeignet, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Dann wurde er jähzornig, behandelte seine Angestellten schlecht und übertrieb den Aufwand auf dem nächsten Event noch mehr.
Irgendwann kam hier in der Region das Gerücht auf, Langheim steuere schnurstracks einem Bankrott entgegen. Auch Opa wusste nicht zu sagen, ob Misswirtschaft in seinen Unternehmen die Hauptverantwortung dafür trug oder ob das ausschweifende Privatleben zu viel Geld verschlang.
Dein Großvater traute sich zu diesem Zeitpunkt fast nicht mehr auf die Insel, weil ihn der irre Blick des Besitzers ängstigte und Langheim plötzlich anschreiben ließ, nicht wie vorher alles in bar sofort bezahlte. Bald belieferte er ihn überhaupt nicht mehr mit Eis. Wir kamen mit den Einkünften aus unserer Eisdiele schließlich damals gerade so über die Runden, Verdienstausfälle durch säumige Zahler konnte sich mein Vater also nicht leisten. Du weißt ja, er hatte fünf hungrige Mäuler zu füttern.
Die einzige Person, die in keiner Weise zu realisieren schien, wie grottenschlecht es um die Finanzen stand, war kurioserweise Langheim selbst. Die Insel hatte ihn dermaßen verblendet, dass er einfach so weitermachte und exzessiv mit Geld um sich warf. Zum Schluss fanden sich bei den Feiern sogar Edelprostituierte aus Napoli ein, stelle dir das mal vor! Die Leute zerrissen sich das Maul, weil der Industrielle sich so dekadent wie einige der römischen Kaiser gebärdete. Nun war die kleine Insel in ihren Augen auch noch zum Sündenpfuhl geworden.
Читать дальше