Das Mahl besteht nur aus einer einzigen, scheußlichen Zutat. Jene Hexe, welche zuletzt den Brocken erreicht, muss wegen sträflicher Vernachlässigung der teuflischen Etikette nach einer letzten glühenden Umarmung mit dem Höllenfürsten sterben. Dann wird ihr in Stücke gerissener Körper in die Hauptschüsseln des Festessens verteilt und den Gästen vorgesetzt.
Sobald sich der Morgen ankündigt, bricht die Schar der Hexen überhastet in alle Windrichtungen auf. Die Menschen, die rund um den Brocken wohnen, schützen sich in diesen Tagen, indem sie drei Kreuze an Haustüren und Ställen anbringen. Die bösen Geister sollen so auf ihrem Hinund Rückflug von Zaubereien an Unschuldigen abgehalten werden.«
Anstelle einer Äußerung drehte sich der Kommissar zur Magnettafel um, schrieb die Worte Hexensabbat: zerbrochener Besen, 11 Portionen Hexenfleisch neben die Tatortfotos. Um die Zahl 11 zog er schwungvoll einen roten Kreis. Danach wandte er sich wieder Marit Schmidbauer zu.
»Ich muss sagen, Ihre Theorie klingt insoweit logisch. Aber wieso ausgerechnet elf? Ist diese Zahl mythologisch belegt?«
Die Angesprochene schüttelte ratlos den Kopf und er sah aus dem Augenwinkel auch andere Kollegen die Schultern zucken.
»Okay, dann lassen wir das mal so stehen. Sobald wir die Identität der Toten geklärt haben, müssen wir nachforschen, ob sie vielleicht mit einem hiesigen Heimatkulturverein in Verbindung stand oder welchen Bezug sie sonst zu dieser Hexensage gehabt haben könnte.«
Maders Blick wanderte in den hinteren Teil des Raumes, wo Revierleiter Remmler, gleich einem unbeweglichen Felsbrocken, dasaß und zuhörte. Seiner Miene konnte man weder Zustimmung noch Ablehnung entnehmen. Scheinbar war das bei ihm normal, er hatte neulich Kollegen auf dem Flur schon scherzhaft über eine sehr wahrscheinliche Gesichtslähmung spekulieren hören. Nun wusste er warum.
Plötzlich überkam ihn eine Eingebung.
»Herr Müller, haben Sie die Leiche eigentlich auf Spuren einer Vergewaltigung untersucht? Wenn die Hexensage buchstabengetreu nachgestellt wurde, dann könnte es vor ihrem Tod noch
›eine letzte glühende Umarmung mit dem Höllenfürsten‹ gegeben haben. Nicht wahr, Frau Schmidbauer?«
Anstelle einer Antwort hielt die Schmidbauer nur einen Daumen hoch, strahlte über das ganze Gesicht.
»Wir sind mit der Obduktion noch nicht fertig, das werden wir überprüfen. Momentan kann ich Ihnen nur den Todeszeitpunkt nennen. Das Opfer muss in den frühen Morgenstunden des ersten Mais, so zwischen zwei und drei Uhr, verstorben sein, und zwar durch dreizehn Messerstiche in den Rücken. Die Lunge wurde total perforiert. Danach wurden die Verstümmelungen vorgenommen, und zwar unprofessionell. Welche Art von Messer oder Säge der Täter hierfür verwendet hat, müssen wir erst noch ermitteln. Die Auswertung der Spuren wird ein Weilchen dauern, wie Sie wissen«, referierte der Gerichtsmediziner.
Die Spurensicherung kam zum Zuge.
»Wir haben am Tatort jede Menge DNA-Material gesammelt, auch Fingerabdrücke am Besenstiel und den Schüsseln … aber ob da etwas Verwertbares dabei ist, steht bislang in den Sternen.
Vermutlich haben zahllose Touristen diesen Hexenaltar besucht und ihr Genmaterial hinterlassen, was selbstverständlich auch für die Fußabdrücke rund um die Felsformation gilt. Der Tatort war verunreinigt. Na, mal sehen, ob es in der Datenbank Treffer gibt. Eine Wiederholungstat ist ja nicht auszuschließen.«
Mader brachte die entsprechenden Notizen auf der Tafel an.
»Gut, dann warte ich auf Ihren Bericht. Nun zu unserem letzten Punkt für heute. Ich habe mich entschieden, eine Soko zu bilden. Es versteht sich von selbst, dass ich in diesem Team nur sehr erfahrene Ermittler gebrauchen kann. Herr Remmler hat mir freundlicherweise bis zu fünf Personen genehmigt, mich selbst als Leiter eingeschlossen. Meldet sich jemand freiwillig?«
Im Besprechungsraum herrschte Totenstille. Remmler spielte immer noch den kalten Felsblock. Mader begann zu schwitzen. Er kannte die Kollegen noch zu wenig, um deren ermittlungstechnische Fähigkeiten einschätzen zu können.
Da schnellte Marit Schmidbauers Arm nach oben.
»Ich würde sehr gerne mitwirken, das Rätsel zu lösen. Und ich empfehle Ihnen, die Herren Schröck, Jablonski und Beckert mit ins Boot zu holen.«
Dafür erntete sie missbilligende Blicke der genannten Beamten. Als er diese direkt ansah, einen nach dem anderen, nickten sie jedoch alle.
Feiges Pack.
»Einverstanden«, sagte er erleichtert.
»Wie soll unsere frisch gegründete Soko eigentlich heißen?«, fragte die Schmidbauer neugierig. Ihr hellwacher Blick erinnerte an den eines Erdmännchens.
»Sie werden lachen, aber darüber habe ich mir gestern Abend schon Gedanken gemacht. Wie wäre es mit Urian ?«
Wieder entstand Gebrabbel. Was hatten diese Unsympathen nun schon wieder auszusetzen? Er hatte nach seiner Rückkehr vom Brocken extra noch gegoogelt und herausgefunden, dass Urian einfach ein anderer, altmodischer Ausdruck für den Teufel war. In früheren Tagen nannte man wohl auch ungebetene Gäste manchmal ›Herr Urian‹.
»Keine gute Idee«, widersprach Marit schnell.
»Wieso? Der Teufel wird hier doch als vorgeschobener Täter missbraucht«, konterte der Kommissar.
»Zu DDR-Zeiten wurde die gesamte Bergkuppe des Brockens für Überwachungsund Spionagezwecke genutzt. Es gab zwei leistungsfähige Abhöranlagen, wovon die eine dem sowjetischen Geheimdienst gehörte. Sie hießen Jenissej und Urian … manche Leute sind auf diese Vergangenheit nicht gut zu sprechen, also könnte der Name in der Bevölkerung Unwillen erwecken.«
»Ich sehe schon, Sie sind ein wandelndes Lexikon und haben einen klassischen Heimvorteil. Wie gut, dass ich Sie in der Soko habe«, lachte Mader. »Alternative Vorschläge?«
Das viel zitierte Schweigen im Walde wäre vermutlich lauter gewesen , dachte Mader frustriert. Er drehte sich wieder zum Magnettafel um und da traf ihn der Einfall wie ein Blitz.
»Die Würfel sind gefallen, um mit Julius Cäsar zu sprechen.«
Er griff nach dem roten Marker und brachte über den Fotos in Großbuchstaben den Schriftzug BROCKOPATH an.
»Wir haben es mit einem Psychopathen zu tun, der am Brocken mordet. Welcher Begriff läge also näher?«
Diesmal klang das Gemurmel zustimmend. Vielleicht tauten jetzt allmählich die Ersten auf, was ja auch Zeit wurde. Mit frischem Elan fuhr er fort:
»Frau Schmidbauer, Sie checken bitte noch heute die Vermisstenanzeigen, ob sich unser Opfer dort finden lässt – bei uns und in benachbarten Revieren. Es könnte ja sein, dass dort gerade erst eine Anzeige eingegangen ist, die sich noch nicht im System befindet. Falls dem nicht so sein sollte, warten wir noch einen Tag, ob etwas hereinkommt. Andernfalls müssten wir eine Fotografie der Toten in der Zeitung abdrucken lassen und darauf hoffen, dass die Frau hier in der Region wohnte und sie irgendjemand erkennt. Sie wissen schon – vorher noch eine Abgleichung von Zahnstatus und Fingerabdrücken … allem eben, was zur Identifizierung beitragen kann.«
Marit Schmidbauer nickte gehorsam, nahm eine Fotografie entgegen. Das hübsche Gesicht des Mordopfers wirkte darauf zwar unnatürlich blass, aber man hätte annehmen können, dass die Frau nur friedlich schlafe. Einzig die blutverkrusteten blonden Haarsträhnen wiesen auf eine Gewalttat hin.
»Klar, die übliche Vorgehensweise halt«, entgegnete sie grinsend. Der Angeber aus der Stadt musste sich schon was anderes einfallen lassen, wenn er hier Eindruck schinden wollte. Scheinbar meinte er, sie hätten drüben in Dresden die Weisheit mit Löffeln gefressen, während hier ermittlungstechnisch noch tiefste Steinzeit herrschte. So ein Schnösel, aber das würden sie ihm bestimmt noch austreiben. Schließlich hatte es im Raum Wernigerode 2012 und 2015 Morde gegeben, so unbefleckt war dieser Landstrich nun auch wieder nicht.
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