Eine seiner Befürchtungen hatte sich damit jedenfalls erledigt. Er würde in dieser beschaulichen Ecke Deutschlands keine ruhige Kugel schieben und sich langweilen müssen, wie seine Dresdner Kollegen grinsend prophezeit hatten.
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2. Mai 2016
Das Revierkommissariat Wernigerode lag im Sonnenschein, nur ein paar harmlose Schönwetterwolken schoben sich wie eine Schafherde über den blassblauen Himmel. Auf dem Nicolaiplatz tummelten sich rund um den Göbelbrunnen, den eine riesige Steinkugel zierte, schon am frühen Vormittag eine Menge Leute. Vermutlich hatten viele Arbeitnehmer frei genommen und den Feiertag Christi Himmelfahrt dazu genutzt, sich in dieser Woche einen Urlaubstag einzusparen.
Die Temperaturen sollten heute über fünfzehn Grad hinaus klettern, und so rüstete sich die angrenzende Gastronomie für sonnenhungrige Gäste, indem die Außentische eilig abgewischt und für das Mittagsgeschäft einladend hergerichtet wurden. Eine flinke Bedienung verteilte gerade cremefarbene Sitzpolster auf den hellbraunen Korbstühlen.
Bernd Mader konnte die Frühlingsidylle nur durch sein Bürofenster betrachten. An Urlaub brauchte er wegen des Brockenmordes nicht im Traum zu denken. Dabei hätte er den für seine Renovierungsarbeiten benötigt und sich das Städtchen Wernigerode gerne etwas näher angeschaut. Auf der Fensterbank lag ein Farbprospekt, den das Revier im vergangenen Jahr anlässlich eines Jubiläums zum Tag der offenen Tür hatte drucken lassen. Das Dienstgebäude war auf der Titelseite abgebildet und auf Seite zwei gab es Erläuterungen für auswärtige Besucher:
Mit ihren rund dreiunddreißigtausend Einwohnern hat die Stadt Wernigerode eine überschaubare Größe, bietet aber dennoch Vielfalt. Die zahlreichen Fachwerkhäuser verleihen dem Stadtkern einen historischen Anstrich und es gibt sogar ein neugotisches Märchenschloss zu bestaunen. Es thront markant über dem Stadtbild und ist schon aus der Ferne gut zu erkennen. Durch die günstige Lage auf der Regenschattenseite des Harzes ist die Stadt begünstigt; es fällt verhältnismäßig wenig Regen und gelegentlich profitiert sie von Föhnwetterlagen, ähnlich dem Voralpenland.
Das heutige Revierkommissariat befindet sich in einem Gebäudekomplex auf dem Gelände des ehemaligen Nicolaihospitals, das beim großen Stadtbrand 1851 vernichtet worden war. Das denkmalgeschützte, dreigeschossige Hauptgebäude wurde an seiner Stelle im klassizistischen Baustil mit einfachem, funktionalem Fachwerk errichtet.
Bis zum Jahr 1873 hatte sich direkt davor noch die Nicolaikirche befunden, die aber komplett abgerissen wurde. Noch heute sind deren einstige Grundrisse im Pflaster des heutigen Nicolaiplatzes zu erkennen.
»Stimmt, von außen sieht die Dienststelle gut aus. Aber innen ähneln sich wahrscheinlich alle Polizeibehörden. Kaltes Neonlicht, unmoderne Büromöbel … ich wollte, man würde für die Sicherheit der Bürger ein wenig mehr Steuergelder locker machen. Finanzminister Schäuble soll sich seine heilige ›schwarze
Null‹ sonst wohin stecken«, brummte Kommissar Mader. Momentan weilte er alleine im Zimmer und in solchen Momenten verfiel er oft in sarkastische Selbstgespräche.
Er riss sich aus seinen negativ angefärbten Gedankengängen, trat vom Fenster zurück und griff missmutig nach seiner frisch angelegten Fallakte, die bis dato lediglich einen Bericht und ein paar Fotos enthielt. In fünf Minuten musste er sich im Besprechungsraum einfinden und sich über die ersten Ermittlungsergebnisse der Spurensicherung aufklären lassen.
Bei dieser Gelegenheit konnte er auch gleich die Sonderkommission ins Leben rufen. Er würde einige ausgewählte Beamte ausschließlich auf den mysteriösen Brockenmord ansetzen und sie von ihren übrigen Pflichten befreien, damit sie sich ungestört darauf konzentrieren konnten. In Dresden war sowas gang und gäbe, meistens mit effektiven Ergebnissen gesegnet gewesen.
Sein Vorgesetzter Walter Remmler hatte zwar bei der Berichterstattung heute Morgen die Stirn ob dieses Ansinnens gerunzelt, aber er hatte ihn von der Notwendigkeit überzeugen können. Jener Chef würde bei der Besprechung höchstpersönlich anwesend sein; vermutlich wollte er sich ein schärferes Bild von seinem Neuzugang aus der Großstadt machen. Das sorgte bei Mader im Vorfeld für eine gewisse Anspannung.
Er musste jetzt los. Die stark profilierten Sohlen seiner Boots erzeugten auf dem lindgrünen Linoleumboden Knarzgeräusche, als er über den Flur zum Besprechungsraum eilte. Er trat nichtsahnend ein – und viele Köpfe fuhren herum, Augenpaare hefteten sich, unverhohlen neugierig, auf ihn. Dem Anschein nach waren alle anderen Teilnehmer bereits vollzählig eingetroffen.
Scheinen durch die Bank von der überpünktlichen Sorte zu sein, meine werten Kolleginnen und Kollegen. Muss ich mir unbedingt merken.
Er postierte sich vor der großen Magnettafel, die die gesamte Rückseite des Raumes einnahm und begann unverzüglich damit, über die bislang bekannten Fakten zu referieren. Er pinnte Tatortfotos auf die noch schneeweiße Fläche und schrieb routiniert ein paar Bemerkungen darunter. Ein entsetztes Aufstöhnen ging durch die Reihen seiner Kollegen, als die Fotos mit den Schüsseln dran waren.
»Nach diesen ersten Erkenntnissen müssen wir davon ausgehen, dass der Täter … sagen wir mal, psychisch nicht gesund ist. Der Sinn seiner sorgfältigen Inszenierung verschließt sich mir bislang noch, aber die Darstellung weist auf einen Zusammenhang mit der Walpurgisnacht hin.«
Gemurmel machte sich breit, manch einer tuschelte mit seinem Sitznachbarn. Auf Maders Stirn bildete sich eine steile Falte zwischen den Augenbrauen.
»Leute, bitte! Wenn es zum Fall etwas zu sagen gibt, würde ich es ebenfalls gerne erfahren. Über das heutige Mittagessen in der Kantine können Sie sich auch nach der Besprechung unterhalten«, rügte er, nur halb im Scherz.
Eine der eifrigsten Schwätzerinnen meldete sich zu Wort, eine junge Frau von vielleicht Anfang dreißig. Sie besaß eine süße Himmelfahrtsnase und braune Kulleraugen, trug ihr langes Haar zum Pferdeschwanz gebunden.
»Ja?«
»Marit Schmidbauer, ich bin Ihnen bislang noch nicht vorgestellt worden. Wir … ähm … haben uns gefragt, ob Sie mit den Sagen und Legenden dieser Gegend hier schon genauer vertraut sind. Weil Sie doch nicht aus dem Harz stammen … «
»Sie meinen diesen Hexenblödsinn? Ich habe davon gehört. Ob der zerbrochene Besen überhaupt zum Tatort gehört oder einfach nur von einer Feiernden dorthin geworfen wurde, müssen wir erst noch herausfinden«, antwortete Mader in abfälligem Tonfall.
Die Schmidbauer verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.
»Dann wissen Sie also auch, was es, jedenfalls der Sage nach, mit den Schüsseln auf sich hat?«, fragte sie trotzig.
»Nein, aber Sie anscheinend. Dann mal raus mit der Sprache«, sagte Mader, jetzt etwas freundlicher. Er durfte es sich mit der Belegschaft keinesfalls gleich zu Beginn verderben.
»Also gut. Ich gebe eine Geschichte wieder, die bei uns in der Region bereits jedes Kleinkind kennt. Klar, es ist nur eine Sage, aber sie scheint auf frappierende Weise zu unserem Tatortszenario zu passen. Eventuell könnte das ein wichtiger Hinweis darauf sein, dass der Täter aus der näheren Umgebung des Brockens, zumindest aber aus dem Harz stammt. Also:
Jährlich findet in der letzten Nacht des Aprils eine schauerliche Zusammenkunft auf dem Brocken statt. Der Teufel höchstpersönlich lädt seine Hexenund Zauberdiener zum wichtigsten Hexensabbat ein. Daher nennt man den Berg auch Blocksberg.
Sobald Mitternacht vorbei ist, kommen von allen Himmelsrichtungen die teuflischen Bundesgenossen auf ihren Untieren, Mistforken und Besen herbeigeritten. Sind alle beisammen, tanzt die Gesellschaft unter lautem Jauchzen bis zur Erschöpfung um ein loderndes Feuer. Anschließend begibt sich der Regent der Unterwelt zur Teufelskanzel, von wo er über Gott, dessen Lehre und die Engel lästert. Danach lädt er die Anwesenden zu einem teuflischen Mahl, das auf dem Hexenaltar zubereitet wird.
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