Sie erreichten die Gangway. Jossip Wassinski blieb kurz stehen, um sich wieder gründlich umzusehen. Nachdem er festgestellt hatte, dass die Luft auch auf dem Kai rein war, lief er mit Maria die Gangway hinunter. Unten angelangt, pumpte er seine Lungen voll und sagte überwältigt: „Endlich, Maria! Endlich stehen wir auf amerikanischem Boden. Wir sind zu Hause.“
„Das kommt mir nicht so vor“, flüsterte Maria Wassinski. Sie blickte zur mächtigen Skyline von Manhattan hinüber. Oft schon hatte sie diese Ansicht auf Bildern gesehen. Aber sie hatte nicht gewusst, dass hier alles so groß und mächtig war. „Ich habe den Eindruck, ich bin in dieser Stadt ein winziges Sandkorn.“
Jossip nickte.
„Das bist du auch. Und das ist gut so. In irgendeiner Falte dieses Riesen werden sich zwei Sandkörner verlieren, und niemand wird sich darum kümmern. Deshalb ist es ja so leicht, in New York unterzutauchen. Knapp acht Millionen Einwohner leben hier. Kommt es da auf uns beide an?“
Sie schritten den Kai entlang. Container standen umher. Was in den Lagerhäusern keinen Platz mehr fand, wurde davor abgestellt. Jossip wusste ungefähr, in welche Richtung er gehen musste. Er hatte sich zu Hause einen alten Stadtplan angesehen. Maria hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Sie vertraute einfach - wie in allem - ihrem älteren Bruder, der für sie schon die richtigen Entscheidungen treffen würde.
Sie erreichten ein Lagerhaus, aus dem Stimmen drangen. Marias Hand drückte fester zu. Jossip bemerkte es. Er blickte das glutäugige Mädchen sanft lächelnd an.
„Du brauchst dich nicht zu fürchten. Es kann dir nichts passieren. Ich bin bei dir. Solange ich dich beschütze, wird dir niemand ein Leid zufügen.“
Er huschte mit ihr hinter die Containergruppe. Vor dem Lagerhaus standen zwei Fahrzeuge. Das Rolltor war halb offen. Wer sich im Lagerhaus befand, konnte Jossip nicht sehen.
„Warte hier!“, sagte er zu seiner Schwester.
Sie blickte ihn erschrocken an.
„Was hast du vor?“
„Ich bin gleich wieder zurück.“
„Geh nicht weg, Jossip! Ich habe Angst. Lass mich nicht allein.“
„Du wirst dich hier verstecken und nicht von der Stelle rühren. In fünf Minuten bin ich wieder bei dir.“
Ehe ihm Maria widersprechen konnte, eilte er davon. Er schlich auf das Rolltor des Lagerhauses zu und sah einen Augenblick später vier Männer. Einer wurde von zwei großen Kerlen gehalten. Vor ihm stand ein bulliger Typ mit Glotzaugen.
Es war Cyril Murray, die rechte Hand Brian Cusacks, der an diesem Morgen schon früh aus den Federn gekrochen war, um Brad Rafferty, einem Schlitzohr, das den König von New York hereingelegt hatte, ins Gewissen zu reden.
„Hör zu, Brad“, knurrte Murray. „Ich denke, ich habe eine Eselsgeduld mit dir gehabt, aber einmal ist Schluss damit.“
„Verdammt noch mal, ich weiß nicht, wer die Container, die für Cusack bestimmt waren, geklaut hat“, beteuerte Rafferty zum x-ten Male.
Murrays Glotzaugen wurden schmal.
„Könntest du sie dir nicht unter den Nagel gerissen haben?“
„Wie kommst du denn darauf?“
„Du hast heute Nacht mit ’ner Menge Geld um dich geschmissen. Hast die Puppen tanzen lassen.“
„Darf ich das denn nicht?“
„Aber ja, wenn es ehrlich verdientes Geld ist schon. Woher hast du den Zaster?“
„Gewonnen.“
„Bei wem?“
„Ich war mit Freunden zusammen. Drüben in Manhattan. Sie hatten 'ne Pechsträhne. Ich habe ihnen die Hosen ausgezogen, und weil’s so großartig gelaufen ist, habe ich hinterher eben ein bisschen gefeiert. Ist da was dabei?“
„Du denkst wohl, die Schlauheit mit der Schöpfkelle gefressen zu haben, was?“, herrschte Murray ihn an. „Aber so clever wie du bin ich allemal noch. Ich glaube dir die Geschichte mit den fremden Männern nicht. In Brian Cusacks Budget klafft ein Loch von zehntausend Dollar. Dafür muss eine alte Frau ganz schön lange stricken, mein Lieber. Brian ist mächtig sauer auf dich, wie du dir denken kannst. Er mag Typen nicht, die ihn reinlegen. Wer könnte ihm das verdenken? Weißt du, was seine erste Reaktion war, als er erfuhr, dass du ihn bestohlen hast? ,Umlegen!‘, hat er gebrüllt. ,Legt das Schwein auf der Stelle um!‘ Aber ich konnte ihn beschwichtigen. Ich machte ihm klar, dass er nichts gewinnt, wenn er dich beseitigen lässt, dass er aber sehr wohl etwas gewinnen kann, wenn er dir dein Leben lässt, denn dann wirst du dich dafür bedanken, indem du das Geld herausrückst, um das du ihn geprellt hast.“
Rafferty schüttelte ärgerlich den Kopf.
„Langsam bin ich es leid, immer wieder dasselbe sagen zu müssen.“
„Denkst du, mir geht es anders?“, knurrte Murray. „Junge, ich rate dir, nimm endlich die Zähne auseinander!“
„Ich habe Cusack nicht bestohlen.“
„Wer war es dann?“
„Das weiß ich nicht!“
„Okay, Freund. Du hast es nicht anders gewollt“, sagte Cyril Murray, und es klang so, als würde er bedauern, dass er nun Gewalt anwenden musste. Seine Männer hielten Brad Rafferty fest. Der Mann hatte keine Möglichkeit, auch nur einem einzigen Schlag auszuweichen. Er musste sie alle voll einstecken. Murray war früher Boxer gewesen. Er ließ von Rafferty erst ab, als er schrie: „Aufhören! Hör auf! Willst du mich erschlagen?“
„Wenn es sein muss, ja!“, blaffte Murray. Er holte zum nächsten Schlag aus.
Da brach Raffertys Widerstand.
„Okay! Okay!“, stöhnte er. „Du hast gewonnen! Okay, ich gebe zu, die Container für mich abgezweigt zu haben.“
„Na also“, sagte Murray zufrieden. „Warum nicht gleich?“
Rafferty konnte nicht mehr auf seinen eigenen Beinen stehen. Wenn Murrays Männer ihn nicht gehalten hätten, wäre er zu Boden gegangen. Schwer atmend hing er zwischen ihnen.
„Du hast das Zeug verkauft?“, fragte Murray.
„Ja. Aber ich habe keine zehn Riesen dafür gekriegt.“
„Wieviel denn?“
„Sechstausend.“
„Idiot. Ein guter Geschäftsmann wird aus dir nie.“
„Ich wollte das Geschäft so schnell wie möglich abwickeln. Das drückt immer auf den Preis.“
„Wo ist das Geld?“
„Es sind nur noch fünftausend Dollar übrig.“
„Na schön, Rafferty, und wo befinden sich die?“, wollte Cyril Murray wissen.
„In meiner Wohnung.“
Murray setzte ein eiskaltes Lächeln auf.
„Das wär's also. Nun kann ich dir verraten, was Cusack mir aufgetragen hat. ,Leg ihn um, sobald er dir gesagt hat, wo sich das Geld befindet.‘ Das hat der Boss mir befohlen. Du weißt, dass sich der König von Brooklyn hundertprozentig auf mich verlassen kann. Du hättest lieber spuren sollen, dann wäre dir das hier erspart geblieben.“
Der Bullige holte ein Springmesser aus der Tasche. Rafferty riss entsetzt die Augen auf.
„Murray! Nein! Um Gottes willen! Das kannst du doch nicht machen!“, schrie er.
Er kam noch einmal zu Kräften und wollte die beiden Kerle abschütteln, die ihn festhielten. Es gelang ihm nicht. Wie zwischen zwei Schraubstockbacken war er eingeklemmt.
„Ich kann“, sagte Murray eiskalt.
„Aber Cusack hat sein Geld doch wieder!“
„Einen Teil davon.“
„Den Rest beschaffe ich auch noch. Ich verspreche es.“
„Darauf verzichtet mein Boss, wenn er dafür weiß, dass du deine Strafe erhalten hast“, sagte Cyril Murray.
„Warte!“, schrie Brad Rafferty verzweifelt.
Doch Murray wartete nicht ...
Jossip Wassinski traf der Schock mit der Wucht eines Keulenschlages. New York - eine Stadt des Verbrechens! hatte ihm zu Hause in Polen einmal jemand gesagt. Man sei hier seines Lebens nicht sicher. Jede vierte Einwohner sei schon einmal überfallen worden, hieß es. Jossip hatte das alles für übertrieben gehalten. Für eine antiamerikanische Propaganda.
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