Dass er dies dennoch nicht immer tat, lag daran, dass er das blonde Mädchen mit den strahlenden Veilchenaugen nicht in Gefahr bringen wollte. Wenn ihm also irgendwelche Gangster zu dicht auf den Fersen waren, wenn die Luft bleihaltig zu werden drohte, zog er es vor, in einem Hotel abzusteigen, damit Sam, wie er das hübsche Mädchen liebevoll nannte, nichts zustoßen konnte.
Ihre Lippen waren weich und warm. Er genoss den Kuss, räkelte sich und öffnete die Augen. Der Tag war noch nicht richtig angebrochen. Graues Licht lag über der Stadt.
Roberto seufzte.
„Bei strahlendem Sonnenschein kann jeder aufstehen, nicht wahr?“
„Guten Morgen“, sagte Samantha. „Der Kaffee ist schon fertig.“
„Du warst schon auf?“, sagte er erstaunt. „Ich habe nichts bemerkt.“
„Ich habe mich wie eine Einschleichdiebin aus dem Schlafzimmer gestohlen, damit du nicht aufwachst.“
„Sehr rücksichtsvoll.“
„Nun wird es langsam Zeit für dich.“
„Wie spät ist es denn?“
„Vier Uhr.“
„Eine barbarische Zeit.“
„Ich habe mir den Job im Hafen nicht ausgesucht“, meinte Samantha Ford.
„Du hast recht. Das war ich.“ Roberto arbeitete seit kurzem im Hafen von Brooklyn. Er wollte Brian Cusack kriegen, den sie den König von Brooklyn nannten und der ein Geschäftspartner der Ehrenwerten Gesellschaft war. Befreite er Brooklyn von Cusack, diesem gefährlichen Parasiten, dann verlor die Mafia eine gute Einnahmequelle, und dem Kampf gegen die Mafia hatte Roberto Tardelli gewissermaßen sein Leben gewidmet.
Die Hafenarbeit war ein hartes Brot, aber Roberto beschwerte sich nicht. Er konnte kräftig zupacken, war nicht zimperlich, und vor schwerer Arbeit war er noch nie fortgelaufen. Nur das frühe Aufstehen störte ihn, aber auch in diesen sauren Apfel biss er, nur um Brian Cusack das Handwerk legen zu können.
Während Roberto duschte, schob Samantha zwei Weißbrotscheiben in den Toaster. Obwohl sie ihren freien Tag hatte, nicht ins Krankenhaus musste und im Bett hätte bleiben können, so lange sie wollte, frühstückte sie mit Roberto.
Nach dem Frühstück zog Roberto eine warme blaue Wolljacke an und setzte eine gestrickte Mütze mit Rollrand auf.
„Sehe ich nicht zünftig aus?“, fragte er lächelnd.
„Wie ein echter Hafenarbeiter“, bestätigte ihm die junge Ärztin. „Kommst du mit deiner eigentlichen Arbeit voran?“
„Ich bin laufend am Sondieren. Es wird nicht leicht sein, Cusack ein Bein zu stellen, aber ich werde es schon irgendwie schaffen.“
Samantha begleitete ihn an die Tür.
„Ich wünsche dir einen erfolgreichen Tag.“
„Und was steht bei dir auf dem Programm?“
Samantha hob die Schultern.
„Weiß ich noch nicht. Vielleicht gehe ich ins Museum. Schade, dass wir nicht zusammen sein können.“
Roberto lächelte.
„Wir hatten die Nacht für uns, und das ist nicht immer so.“ Dann gab er ihr einen Abschiedskuss und verließ das Apartment. Er ahnte nicht, dass dieser Tag die Ereignisse gewaltig vorantreiben würde und er seinem Ziel einen Riesenschritt näherkommen sollte.
Es war feucht und kalt an diesem Morgen. Der Himmel - obwohl wolkenlos - war noch grau. Die Nacht konnte sich noch nicht entschließen, zu gehen, und der Tag war noch zu schwach, um sie zu vertreiben.
Still und verlassen lagen die riesigen Frachtkähne an den Piers von Brooklyn. Irgendwo kläffte ein Köter. Der Wind blies alte Zeitungsfetzen an den Fronten der Lagerhäuser vorbei. Wie Ungetüme aus der Vorzeit ragten die mächtigen Kräne empor. Bald würde hier das Leben erwachen, wenn die ersten Hafenarbeiter eintrafen. Doch noch war alles ruhig.
Auf einem der Kähne bewegte sich eine Plane. Sie wurde ein Stück zurückgeschoben. Ein Kopf tauchte auf. Vorsichtig. Der Mann peilte die Lage. Er hatte ein großes rundes Gesicht und dunkle Knopfaugen. Ein leidender Ausdruck stand in seinem Antlitz. Das Leben schien nicht gerade sanft mit ihm umgegangen zu sein. Wie ein Mensch, der ständig auf der Flucht ist, sah er aus.
Die Luft war rein. Er tauchte wieder unter die Plane.
„Wie sieht's aus?“, fragte ihn eine zaghafte Mädchenstimme aus der Dunkelheit. Sie gehörte Maria Wassinski, seiner Schwester. Er hieß Jossip Wassinski und war um fünf Jahre älter als sie.
Sie stammten aus Polen, einem Land, in dem sie nicht mehr leben wollten. Sie hatten einfach nicht mehr die Kraft dazu. Sie waren wegen ihrer politischen Aktivitäten verfolgt worden. Man hatte ihnen das Leben so schwer wie möglich gemacht, und sie hatten befürchtet, in ihrer Heimat vor die Hunde zu gehen. Deshalb hatten sie sich entschlossen, auszuwandern. Illegal natürlich, denn eine Ausreisegenehmigung hätte man ihnen nicht erteilt.
Sie hatten ihre gesamten Ersparnisse zusammengerafft, hatten sich nach Danzig begeben, hatten einen Matrosen bestochen und waren als blinde Passagiere auf diesen Frachter gelangt. Nach einer Fahrt, die kein Ende nehmen wollte, waren sie in New York eingetroffen. In der Freiheit. In Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
„Du wirst sehen“, sagte Jossip Wassinski immer zu seiner Schwester. „In Amerika werden wir unser Glück finden.“
Noch zweifelte Maria daran. Sie wusste nicht, ob es richtig war, daheim alles stehen und liegen zu lassen und davonzulaufen. Sie hatte Angst vor der Zukunft, denn Amerika würde sie nicht mit offenen Armen aufnehmen. Schließlich waren sie illegale Einwanderer, und gegen die hat jeder Staat dieser Welt etwas.
Sie hatten eine Adresse. Ein Landsmann würde ihnen weiterhelfen, wenn sie ihn aufsuchten. Jossip war voller Zuversicht, dass sich für sie alles zum Guten wenden würde. Er war kräftig. Er würde jede Arbeit annehmen, die man ihm anbot, und er würde fleißig arbeiten.
„Wir werden unseren Weg machen!“ Auch das war einer seiner Sprüche, die immer wiederkehrten. „Lass uns nur erst einmal amerikanischen Boden unter den Füßen haben, Maria.“
Seine Schwester brauchte vorerst nichts zu tun. Sie sollte Zeit haben, den richtigen Job zu finden. Jossip wollte nicht, dass sie unversehens auf die schiefe Bahn geriet. Man hatte ihn gewarnt. New York war nicht nur ein heißes Pflaster, sondern auch ein schlüpfriges, wenn man sich nicht vorsah.
„Es ist alles ruhig“, sagte Jossip. Er schlang seine Arme um Maria und drückte sie innig an sich. „Mein kleines Täubchen, du brauchst keine Angst zu haben. Es wird alles gut werden. Wir tun in wenigen Augenblicken den ersten Schritt in ein neues Leben. In diesem Land darf man sagen, was man sich denkt. Solange du das Gesetz nicht übertrittst, darfst du tun und lassen, was dir Spaß macht.“
Maria schüttelte den Kopf.
„Nein, Jossip. Das trifft auf uns beide nicht zu. Wir sind in diesem Land unerwünscht. Sobald du sagst, was du dir denkst, fällst du auf, und sobald man auf dich aufmerksam geworden ist, schiebt man dich ab. Dann geht es zurück nach Polen.“
„Polen“, sagte Jossip und strich zärtlich über das dunkelbraune Haar seiner schönen Schwester. „Polen gehört der Vergangenheit an, Maria. Unsere neue Heimat heißt Amerika.“ Er griff nach ihrer Hand, und dann krochen sie gemeinsam unter der Plane hervor. Sie schlichen geduckt über das Deck des Frachters. Zwei Schemen waren sie, die durch das Morgengrauen huschten.
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