Wenn Du so weit bist, kehre um. Gehe den Weg zurück den Du gekommen bist. Verschließe die Durchgänge und Pforten hinter Dir sorgfältig. Erinnere Dich an Deinen Körper und fülle ihn auf, bis in die Zehen, bis in die Fingerspitzen, vom Beckenboden bis zum Kopf.
Nimm tiefe Atemzüge. Und während Deine Gedanken schneller werden, fange an Dich zu räkeln, strecke die Arme und Beine, öffne die Augen, jetzt wach und klar und ganz hier, erfrischt und gut gelaunt, und wenn du so weit bist, stehe gemächlich auf. Lass Dir ruhig Zeit dabei. Wenn Du lange in Trance warst, brauchst Du einen Augenblick um in der Welt anzukommen. Dein Hirn stellt sich um, Dein Nervensystem passt sich an, die Welt ist neu und frisch und Du auch.
Und schreib‘ sofort auf, was Du erlebt hast. Egal ob viel oder wenig, Du wirst Deine Erinnerung leichter behalten, wenn Du die Welten verbindest und den Erinnerungsbericht festhältst.
Und falls Du Dich neben der Spur fühlst, mach‘ eine Bannung, nimm‘ eine kalte Dusche und geh eine Runde spazieren in der frischen Luft.
Die Toten auferstehen lassen
Im Reich der Toten gibt es viel verborgenes Wissen zu entdecken, beziehungsweise in dem Teil Deines Geistes, den Deine lebendige Persönlichkeit für tot hält (d. h. der jenseits des Ego existiert). Darum geht es bei Nekromantie. Wenn Du einen Grabhügel erforschst, führst Du tatsächlich ein Ritual zur Beschwörung der Toten durch. Das klingt wild und dramatisch; allerdings passiert das Selbe, wenn Du Bücher von einem bereits verstorbenen Autor liest. An diesem Punkt möchte ich hinzufügen, dass Rituale zur Beschwörung der Toten einen respektablen Platz im magischen Repertoire der mittelalterlichen Barden hatten. Das berühmte irische Werk Dindsenchas beruht auf genau dieser Idee. Wörtlich übersetzt bedeutet der Ausdruck „Hügel-Geschichten”, oder, genauer, Geschichten über Grabhügel und Hügelsiedlungen. Diese Geschichten wurden in der Zeit vom 9. bis zum 11. Jahrhundert unserer Zeit gesammelt und bestehen im Wesentlichen aus der Erklärung von Ortsnamen. Die irischen Poeten glaubten, es sei wichtig, das Wissen über das Land am Leben zu halten. Ihr Repertoire an Geschichten geht in die Hunderte und umfasst örtliche Traditionen, die Geschichten von Hügeln, Straßen, Grabhügeln, Dörfern, Flüssen und Teichen. Wenn derartiges Wissen oder irgendein anderes Stück Geschichte zufällig in Vergessenheit geraten war, versammelten sich die Poeten, um einen Ritus zur Beschwörung der Toten durchzuführen. Sie nutzten einen Grabhügel, der irgendeinem verstorbenen Helden zugeordnet wurde und ließen ihn auferstehen, um zu erfahren, wie es sich wirklich zugetragen hatte – und zwar von jemandem, der dabei gewesen war. (Ein gutes Beispiel dafür findest Du im Tain). In ähnlicher Weise wurde Taliesin (oder zumindest einer, der diesen Namen trug) von Fürst Elffin gebeten, die Namen der Helden zu nennen, die unter den Grabhügeln Britanniens schlummerten (Schwarzes Buch von Carmarthen, 19).
Die Gräber, die der Regen nässt?
Männer, nicht gewohnt, mich zu enttäuschen -
Cerwyd, und Cyrwyd, und Caw.
Die Gräber die das Dickicht bedeckt?
Sie würden nicht nachgeben ohne Rache zu üben:
Gwryen, Morien und Morial.
Die Gräber die der Schauer nässt?
Männer, die nicht heimlich aufgeben würden -
Gwen, und Gwrien, und Gwriad.
Das Grab von Tydain, Vater der Muse,
im Bezirk von Bron Aren:
wo die Wellen traurig klingen,
das Grab von Dylan in Llan Beuno
…
Wahrlich, Elffin brachte mich,
mein ursprüngliches Bardenwissen zu erproben,
bezüglich eines Anführers -
das Grab von Rwvawn von gebieterischem Wesen.
Wahrlich, Elffin brachte mich,
mein Bardenwissen zu erproben
bezüglich eines frühen Anführers -
das Grab von Rwvawn, zu früh ging er ins Grab.
Das Grab von March, das Grab von Gwythur,
das Grab von Gwgawn Gleddyvrudd;
der Welt ein Rätsel, das Grab von Arthur …
Wer kennt dieses Grab? Jenes Grab?
Und dieses?
Frag mich, ich weiß es…
(SBvC 19)
Es handelt sich hier nur um eine kurze Auswahl, das ganze Gedicht hat 73 Zeilen und nennt mehr erschlagene Helden, als je Bedarf an ihnen bestünde. Von Taliesin, der überall gewesen war und jede denkbare Erfahrung gemacht hatte, wurde erwartet, dass er die Namen und Taten aller Toten kennt.
Wem gehört das Grab? Dieses Grab?
Und jenes?
Frag mich, ich weiß es;
In späteren Versen ist es das Awen selbst, der Geist der Inspiration, der die verborgenen Mysterien offenbart.
Wenn Du Dich daran wagst, die Geheimnisse der Toten zu erkunden, indem Du ein Tranceritual bei den Grabhügeln durchführst, könnte das Awen Dir ähnliche Einsichten gewähren. Falls es in Deiner Gegend bequemerweise irgendwelche Hügelgräber geben sollte, möchtest Du vielleicht herausfinden, wer in den hohlen Hügeln begraben liegt. Am besten führst Du dieses Ritual mit einem gewissen Maß an Respekt durch. Es kann von ziemlich schlechten Manieren zeugen, auf einem Grabhügel herum zu trampeln, dessen Bewohner man nicht kennt. Ein Gebet und eine Anrufung können hier hilfreich sein. Ich möchte vorschlagen, vorgefertigte Formeln zu vergessen und einfach zu sagen, was Dir am Herzen liegt. Emotionen, die durch Gebete kanalisiert werden, Opfergaben, Rituale und Musik können genau das Richtige sein, um Deine Phantasie anzuregen und Dich in die richtige Stimmung zu bringen.
Für draußen durchgeführte Evokationen verwende ich gerne eine Schütteltrance; zum einen erhöht sie die Klarheit der Visionen, und zum anderen hält sie mich warm. Erregung setzt das Zittern in Gang. Wenn Du das Lernen willst, findest Du eine praktische Einführung in Seidwärts. Auch hier ist es nützlich, wenn Du einfach Deinen Geist offen hältst. Das heißt, ganz egal, ob Deine Visionen vage oder überwältigend sind – Du solltest sie als echt empfinden, aber nicht als die einzig mögliche Wahrheit. Eine bardische Wahrheit ist nicht die Art von Wahrheit, die ein Wissenschaftler anerkennen würde. Sie ist weder besser noch schlechter; sie bewegt sich ganz einfach auf einer völlig anderen Verständnisebene. Die Barden und Poeten, die Nekromantie benutzten, um etwas über die Vergangenheit zu erfahren, setzten ihre Phantasie als legitimes Mittel zur Erforschung des Unbekannten ein. Daraus folgt, dass Deine persönlichen Einsichten, wenn Du in Trance in einen Hügel gehst, mit dem derzeitigen Wissensstand übereinstimmen können oder auch nicht. Ungeachtet dessen übst Du damit eine typische Aktivität der keltischen Seher aus.
Opferplätze unter freiem Himmel: Vom Ende der Hallstattzeit
Zuletzt noch ein paar Bemerkungen zum Kult der späten Hallstattzeit. Wie schon gesagt, wissen wir viel zu wenig über die religiösen Bräuche der Hallstattkultur. Wir wissen noch nicht einmal, ob es eine organisierte Priesterschaft gab, wieviele Götter verehrt wurde, was genau die damalige Bevölkerung für göttlich hielt und wann die Riten erfolgten. Vermutlich gab es keine einheitliche Religion, sondern eine Vielzahl von örtlichen Entwicklungen. Aber auch das ist geraten. Über manche Kultplätze wissen wir dagegen ein wenig. Ich bin sicher, dass die Hügelgräber ein wichtiger Teil der Religion waren, wir hätten es hier also mit vergöttlichten Ahnen zu tun. Aber es gibt auch Opferplätze, die ohne Gräber auskamen. Von diesen sind nur sehr wenige bekannt. Es liegt vor allem am Mangel von Funden. Woran erkennen wir heute, nach rund zweieinhalb Tausend Jahren, einen ehemaligen Kultplatz? Solange keine Megalithen aufgestellt sind, bleiben wenig Spuren zurück. Die Landschaft verändert sich ständig. Quellen können versiegen und andernorts neu hervortreten. Seen halten selten länger als ein paar Generationen, bevor sie, gefüllt mit Laub und organischen Abfällen, versumpfen und zuletzt zu ganz normalem Erdreich werden. Gärten, Wiesen, Felder und Wege werden früher oder später vom Wald verschluckt. Pfostenlöcher zeigen, wo es Gebäude gab, sagen aber nicht, was für Gebäude es waren. Manchmal erlaubt es eine gründliche Bodenuntersuchung, einen Opferplatz zu bestimmen. Orte, an denen viele Tiere geopfert wurden, haben, dank des vergossenen Blutes, einen höheren Eisengehalt als die Umgebung. Aber solche Stellen sind meist klein und schwer zu bestimmen, gar nicht zu reden von den Kosten der Laboranalyse. Was die Jahrhunderte überdauert, sind oft nur Knochen und Scherben. Häufige Tierknochen können auf Schlachtplätze hinweisen und sind also kein sicheres Zeichen für Opferkulte. In Kombination und in Verbindung mit landschaftlich auffälligen Orten sagen sie allerdings wesentlich mehr aus. Zum Glück gibt es etliche solche Plätze aus der Hallstattzeit. Bisher sind sieben mit Sicherheit bestimmt worden. Was ein nützlicher Hinweis ist, aber nun wirklich nicht genug, um zu verallgemeinern. Es handelt sich durchweg um landschaftlich schöne Orte, die sich zum Himmel orientieren. Hier gibt es Felsnadeln, Klippen, Steilhänge und Hügelkuppen.
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