Hannes Hofbauer - Europa

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Der herrschende Diskurs erlaubt kein negatives Eigenschaftswort zum Begriff «Europa». Allenthalben wird über mehr Transparenz, bessere Kommunikation und effektivere Verwaltung debattiert. Das Konstrukt der Europäischen Union wird als alternativlos dargestellt; alternativlos als Großraum im weltweiten wirtschaftlichen Konkurrenzkampf ebenso wie als Garant für eine – angeblich – demokratische Wertegemeinschaft.
Hannes Hofbauer entlarvt das in Brüssel, Berlin und anderswo gemalte Selbstbild als ideologische Begleiterscheinung ökonomischer Protagonisten, die für ihre Geschäfte einen supranationalen Raum und einen entsprechenden militärischen Flankenschutz brauchen. Und er weist den hegemonial-liberalen Ansatz, wonach eine Infragestellung des «europäischen» Selbstverständnisses quasi automatisch rechts wäre, entschieden zurück.
Der Autor verfolgt die Europa-Idee bis ins Hochmittelalter zurück und zeigt, wie die Verschmelzung von Antike und Christentum schon vor 800 Jahren zu einem Drang nach Osten geführt hat. Das Selbstverständnis der Kreuzzüge war weströmisch-europäisch. Auch der Kampf von Herrscherhäusern um Vorherrschaft spielte sich auf dem europäischen Tableau ab. Und die zwei bislang verheerendsten Feldzüge in Richtung Osten, jener Napoleons und jener der Wehrmacht, folgten sehr unterschiedlichen, heute verquer wirkenden Europabildern. Nur wenige Europa-Visionen waren von sozialen Utopie- und Friedensvorstellungen geprägt.
Der Großteil des Buches beschäftigt sich mit der Geschichte der EU-europäischen Einigung, die vom Kohle-Stahl-Pakt über die Einheitliche Europäische Akte, Maastricht und den Vertrag von Lissabon bis zu den Zerfallsprozessen unserer Tage reicht. Die vielfachen Warnungen an die Brüsseler Ratsherren, ablehnende Referenden in Frankreich, den Niederlanden, Irland und EU-feindliche Stimmungen in vielen Mitgliedsländern, wurden in den Wind geschlagen. Auch das britische Brexit-Votum im Jahr 2016 stellte keinen Weckruf für die Apologeten der Supranationalität dar. Wie stark die nationalen Fliehkräfte entwickelt sind, zeigt der Umgang mit der Bekämpfung eines Virus, dem sich das abschließende Kapitel widmet.
Es ist Zeit, sich Gedanken über eine Welt nach dem Scheitern der Brüsseler Union zu machen.

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Hannes Hofbauer

Europa. Ein Nachruf

картинка 1

© 2020 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

ISBN: 978-3-85371-883-4

(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-475-1)

Fordern Sie unsere Kataloge an:

Promedia Verlag

Wickenburggasse 5/12

A-1080 Wien

E-Mail: promedia@mediashop.atInternet: www.mediashop.at www.verlag-promedia.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Europa: Begriff – Mythos – Erdteil

2. Die Vorgeschichte

3. Nach 1945: Westeuropa wird amerikanisch

4. Großraum für Kohle und Stahl: Die Montanunion

5. Vom Kohle-Stahl-Pakt der Sechs zur Wirtschaftsgemeinschaft der Zwölf

6. Neoliberaler Durchstart: Kapitalherrschaft im Binnenmarkt

7. Die Militarisierung der Europäischen Union

Exkurs

8. Gescheiterte (Supra)Staatsbildung

9. Die Osterweiterung

10. Von der Weltwirtschaftskrise zum Brexit

11. Brüssels Todesvirus

Literaturliste

Über den Autor

Hannes Hofbauer, geboren 1955 in Wien, studierte Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Publizist und Verleger. Im Promedia Verlag ist von ihm u.a. erschienen: »EU-Osterweiterung. Historische Basis – ökonomische Treibkräfte – soziale Folgen« (2. Auflage 2007) und »Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung« (2016).

Vorwort

Mitte März 2020 saß EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrem Brüsseler Büro und musste tatenlos zusehen, wie ein Mitgliedsland nach dem anderen Verordnungen zu Grenzschließungen erließ, ohne diese zuvor auf EU-Ebene abzustimmen. Am tschechischen Grenzübergang České Velenice fuhren Radpanzer auf, im dänischen Pattburg schleppten Baufahrzeuge Barrikaden heran und überall begann man eifrig damit, Menschen nach ihren Staatsbürgerschaften zu sortieren.

Nicht das auf Sars-CoV-2 getaufte Virus war es, das den Offenbarungseid der EU-europäischen Institutionen bewirkte, sondern die einzelstaatlichen, völlig unkoordinierten Maßnahmen dagegen. Dieses Management der 27 – Großbritannien hatte bereits kurz zuvor die Flucht ergriffen – förderte zutage, was Worthülsen wie »europäische Solidarität« und »Weltoffenheit« wert sind, wenn es auf sie ankommt: nichts.

Doch die EU scheitert nicht bloß am Umgang mit einer Seuche, deren Gefährlichkeit auch ein halbes Jahr nach ihrem Auftauchen umstritten ist. Das europäische Einigungsprojekt war von Anfang an nicht als solidarisches und demokratisches gedacht, sondern folgte immer spezifischen wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen. Es ging um die Herstellung eines Großraumes für ökonomische Protagonisten in einem angeblich alternativlosen weltweiten Konkurrenzkampf. Als ideologische Begleiterscheinung dieses Geschäfts­modells wird das Selbstbild einer Wertegemeinschaft gemalt, deren anhaftendes Beiwort »europäisch« etwas erklären soll, das für die meisten BewohnerInnen dieses Raumes keinen Sinn ergibt. Schon die unhinterfragte, auch militärische Einbettung in die transatlantische Allianz macht die Eigenwahrnehmung ihrer Eliten unglaubwürdig. Die Ablösung dieser amerikanisch-europäischen Achse durch den Aufstieg Chinas auf der einen Seite sowie zunehmende regionale und soziale Ungleichheiten auf der anderen Seite beschleunigen den Niedergang der Brüsseler Union.

Ein Blick zurück zeigt, dass Europa-Ideen eine lange historische Tradition aufweisen. Aus der Verschmelzung von Antike und Christentum entsteht im Hochmittelalter die Grundlage eines Europabildes, das in der Folge in den unterschiedlichsten Varianten auftaucht. Die allermeisten Vorstellungen eines solchen »Europa« waren exklusiv, das heißt, die Feindwahrnehmung bildete die entscheidende Gemeinsamkeit und den Zusammenhalt im Inneren. Neben dem Kampf dynastischer Herrscherhäuser um territoriale Erweiterungen, der mit jeweils unterschiedlichen Vorstellungen von Europa legitimiert wurde, verstanden sich die allermeisten Europa-Ideen als Gegenbilder zur muslimischen und zur russischen Welt. Ausnahmen davon waren selten, dafür umso interessanter.

Der Großteil des Buches beschäftigt sich mit der Entwicklung der europäischen Einigungsbestrebungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei wird deutlich, wie sehr die einzelnen Schritte hin zu einem größeren Europa von einer schmalen Schicht vorangetrieben werden, die ausschließlich wirtschaftlichen Interessen folgt. Vom »Komplott« des Kohle-Stahl-Paktes über die Missachtung einer ganzen Reihe von ablehnenden Volksentscheiden bis zur Konstruktion eines EU-»Parlaments«, das nicht einmal über ein gesetzgeberisches Vorschlagsrecht verfügt, steht die Geschichte der Europäischen Union für eine herrschaftliche Einrichtung von oben ohne demokratische Legitimation von unten.

Die Idee Europa faszinierte gleichwohl Menschen und Mächte in unterschiedlichsten Zeitaltern und Formen. Das wird auch nach dem absehbaren Zusammenbruch dieser aktuellen Europäischen Union so sein, weshalb am Ende dieses Buches ein Ausblick auf ein Europa ohne EU gewagt wird.

Mein spezieller Dank gilt den Menschen in meiner Umgebung, mit denen ich seit Jahren über Sinn und Nutzen der Europäischen Union diskutiere. Insbesondere seit der großen Osterweiterung 2004/2007 habe ich den einen oder die andere mit meiner Beharrlichkeit vielleicht irritiert, wofür ich mich – gerade wegen meiner Beharrlichkeit – aber nicht entschuldigen kann. Ich hoffe, die Debatten dienten der gegenseitigen Bereicherung; für mich war es jedenfalls so. Meiner Erstleserin und Lebensgefährtin Andrea Komlosy sei ein besonderer Dank ausgesprochen. Ohne die Hunderten von Stunden, in denen wir miteinander auf- und abdiskutiert haben, wäre dieses Buch nicht entstanden.

Hannes Hofbauer Wien, im August 2020

1. Europa: Begriff – Mythos – Erdteil

Dunkelland. So könnte man den Begriff »ereb« bzw. »erp« übersetzen, mit dem die unter assyrischer Herrschaft stehenden Phönizier vor 3000 Jahren jenen Landstrich bezeichneten, in dem die Sonne unterging. Damit erklären Altertumsforscher die etymologischen Wurzeln des Wortes »Europa«. Von den BewohnerInnen der phönizischen Städte Kleinasiens aus betrachtet stand »ereb« für das Land der Finsternis, während »asia« den Osten beschrieb, in dem jeden Tag die Sonne aufging. Den Wortsinn übernahm später das Lateinische mit dem Begriffspaar Okzident und Orient. Auch wir sprechen heute noch im Deutschen vom Abendland in Blickrichtung untergehender Sonne und vom Morgenland im Osten. Konträr zu seinen sprachlichen Wurzeln ist es allerdings gelungen, »Europa« einem Bedeutungswandel zu unterziehen. Heute werden mit dem Begriff Helligkeit und Zukunft assoziiert, als ob die Sonne im Westen aufginge und das Dunkel im Asiatischen läge.

In der griechischen Mythologie, also der die Welt erklärenden Erzählung, kommt »Europa« als Frauengestalt vor, die von Göttervater Zeus, der in Gestalt eines Stiers auftritt, geraubt und geschwängert wird. Hier verbinden sich griechische mit phönizischen Gründungsmythen. Denn die von Zeus entführte Europa war die Tochter (oder Schwester) von Phoinix, dem Stammvater der Phönizier. Zeus zeugte mit ihr auf Kreta drei Söhne. Frauenraub war über Jahrtausende eine gängige Praxis, um die Reproduktionskapazitäten eines Stammes zu stärken. Dass der Raub und das anschließende Schwängern der Europa in der Literatur und auf bildlichen Darstellungen (Europa und der Stier) seit der griechischen Antike fast durchwegs als dynamisch und glücksbringend dargestellt wird, zeugt von der seit damals dominanten patriarchalen Gesellschaftsstruktur. Man könnte die mythologische Figur der Europa aber auch als eine von der stärksten Macht, dem Göttervater, verschleppte und vergewaltigte Frau zeichnen. Dies ergäbe – schon von der Altertumserzählung her – ein anderes Europabild.

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