Megan hob den Messbecher vor die Augen und schüttelte ihn leicht. Ja, es war genug Petersilie drin, jetzt musste sie den Sud nur noch etwas ziehen lassen. Sie stellte den Becher weg und nahm stattdessen einen kleinen hölzernen Kasten hervor, in dem sie aufsaugende Tücher aufbewahrte. Ein scharfer Duft nach Zitrone und anderen Ölen stieg ihr in die Nase, als sie ihn öffnete, und sie lächelte zufrieden. Sie verschloss den Kasten wieder und prüfte stattdessen als Letztes nach, ob ihr Vorrat an Steinsalzkristallen noch nicht erschöpft war – war er nicht. Eines nach dem anderen ließ sie die Gegenstände zurück in ihre Reisetasche gleiten.
Rhùk und sie waren von Kirin im Gästetrakt einquartiert worden, in einem Gemach, das größer war als der Lesesaal der Bibliothek von Aléh und einen wundervollen Blick auf die Stadt bot. Sie sah hinaus, während sie arbeitete, und wunderte sich, wie scheinbar friedlich sie dalag. Als sie das letzte Mal hier gewesen war, war sie ein Bild von Tod und Zerstörung gewesen. Jetzt, im sanften Licht eines frühen Wintermondes, erinnerte nichts mehr daran. Sie hatte Kirin gestern ihre Idee unterbreitet, und obwohl sie sah, dass sie ihm nicht gefiel, musste er einsehen, dass sie einen Versuch wert war. Er hatte seine engsten Berater darin eingeweiht, und auch sie waren davon angetan gewesen. Wenigstens würde es ihnen das Gefühl geben, irgendetwas getan zu haben.
Leise öffnete sich die Tür hinter ihr, und ein kühler Luftzug streifte ihre Haut. Sie lächelte versteckt, als sich ihr die vertrauten Schritte näherten und dann eine Hand ihren Nacken berührte.
»Was machst du da?«, fragte Rhùk neugierig.
»Ich stocke meine Arzneien auf«, erklärte sie nebenher und deckte den Becher mit dem Petersiliensud zu.
»Hast du schon wieder ein ganzes Rudel an zukünftigen Patienten ausgemacht?«, neckte Rhùk zärtlich und massierte ihren Hals mit seinen kräftigen Fingern.
»Persönliche Arzneien. Für mich«, sagte Megan so beiläufig wie möglich und warf ihm ein flüchtiges Lächeln zu, von dem sie wusste, wie schuldbewusst es aussah.
Rhùk ließ die Hand sinken und sah sie aus seinen dunklen Augen an. »Wann hörst du damit auf?«, fragte er; er sprach ohne Vorwurf, aber trotzdem biss sich Megan auf die Lippen.
»Was meinst du damit?«, fragte sie und stand auf; dieses Thema war ihr mehr als unangenehm, und sie wünschte nicht zum ersten Mal, sie könnten es einfach beide vergessen und nie mehr darüber reden.
»Wir sind jetzt verheiratet«, sagte Rhùk ruhig, »es ist nicht mehr nötig, dass du das machst.«
Megan presste den Mund fest zusammen und sagte nichts.
Rhùk kam näher und berührte sie sachte an den Armen. »Es ist nichts Schlimmes dabei. Eigentlich ist es das Natürlichste für ein Ehepaar, oder nicht?«
Megan drehte sich von ihm weg, ein widerliches Brennen in der Kehle; sie hasste es, und er sollte sie nicht so sehen.
»Megan, die meisten Menschen haben irgendwann Kinder.«
Sie flüchtete ans Fenster.
Als sie damals mit Rhùk aus Nardéz aufgebrochen war, war ihr klar gewesen, dass sie sich auf etwas Unvorhersehbares einließ, doch für einmal hatte sie ihre Zweifel zum Schweigen gebracht. Obwohl sie gespürt hatte, dass ihre Zuneigung stärker war als die seine, hatte sie sich auf ihn eingelassen, und er hatte ihr bisher nie einen Grund gegeben, das zu bereuen.
Je mehr Zeit sie miteinander verbracht hatten, desto tiefer war die Verbundenheit zwischen ihnen geworden, und mittlerweile gab es für sie keinen Zweifel mehr an seinen Gefühlen. Wenngleich sie sich in vielen Dingen so sehr voneinander unterschieden – die Dinge, in denen sie sich ähnelten, waren wichtiger, und in der Zwischenzeit genügte oft ein Blick oder eine Geste, damit der eine wusste, was der andere dachte.
Diese eine Sache jedoch war eine unüberbrückbare Mauer, und so sehr sie auch versuchte, sie zu umgehen, er kam immer wieder darauf zurück, mit einer Beharrlichkeit, die sie überraschte und verärgerte.
»Ich wusste nicht, dass du plötzlich so versessen darauf bist, häuslich zu werden.« Ihre Stimme hätte bissig klingen sollen, zitterte aber verdächtig.
Lange Zeit sagte Rhùk nichts, und ihr war klar, dass sie ihm wieder einmal wehgetan hatte.
»Ich frage mich nur, warum du unter keinen Umständen ein Kind von mir willst.«
Diese Ruhe, diese fürchterliche Ruhe in seiner Stimme.
Megans Gesicht verzerrte sich, und langsam drehte sie sich zu ihm um. Sie sah seine Miene im Halbdunkel und musste plötzlich gegen Tränen ankämpfen.
»Wenn wir … wenn ich ein Kind hätte«, begann sie schließlich, »was wäre dann?«
Ein Anflug des üblichen ironischen Glitzerns stahl sich in seine Augen.
»Nun, vermutlich hätten wir ein pummeliges kleines rosa Ding, mit dem wir uns plötzlich herumschlagen müssten. Es würde schreien und quengeln und ich würde sehr schnell darauf zu reden kommen, dass du von Anfang an Recht hattest und wir es lieber hätten bleiben lassen sollen.«
Megan zwang ihren Atem zur Ruhe.
»Wenn wir … wenn ich ein Kind gebären würde, dann wäre es … es wäre wie ich. Ich habe keinen Feind auf der Welt, dem ich so etwas wünschen würde, wie kannst du verlangen, dass ich es meinem eigenen Kind antue?«
Lange Zeit herrschte Schweigen in dem kleinen Raum, durchbrochen nur vom Geräusch des Windes draußen.
Dann sagte Rhùk: »Du weißt, dass es mir egal ist. Dass ich dich so will, wie du bist. Und dass ich auch unser Kind wollen würde.«
Megan zwang sich zu einem Lächeln. »Aber allen anderen Menschen wäre es nicht egal. Es mag für dich einfach sein, aber irgendwann wird der Tag kommen, an dem etwas vorfällt, und dann würden sie Jagd auf uns machen. Auf unseren Sohn oder unsere Tochter. Er oder sie würde nie normal sein und sich immer verstecken müssen. Unser Kind wäre ein Flüchtling und ausgestoßen, sein ganzes Leben.«
»Du vergisst, dass ich auch noch da bin«, bemerkte Rhùk mit einem halben Grinsen und trat auf sie zu. »Immerhin hätte das Kind sicher ganz viel von seinem großen starken Vater. Es würde einfach alle verdreschen, die ihm zu nahe kommen, und jeder würde vor Angst zittern, wenn auch nur sein Name fallen würde.« Er küsste ihre Stirn, und für einen Augenblick erlosch jede Ironie in seinem Blick. »Ich würde es beschützen. Du würdest es beschützen. Es wäre nie ausgestoßen, denn es hätte uns.«
In diesem Moment liebte sie ihn so sehr wie noch nie zuvor, so sehr, dass es keine Worte gab, es auszudrücken. Stattdessen schlang sie die Arme um ihn und drückte ihn an sich, und er erwiderte stumm ihre Umarmung. Lange hielten sie sich so fest, bis der Mond hinter einer Wolke verschwand.
Aracanon, Hauptstadt Nardéz, Winter im Jahr 1098 des zweiten Zyklus
Seine Kleider stanken vom Unrat und der scheußlichen Brühe in der Kanalisation, aber Narvek war es gleich; endlich hatte er sein Ziel erreicht, und dieses Wissen gab ihm Antrieb genug. Er hatte sich dem Grenzfluss Thoyga bereits bis auf wenige Tagesmärsche genähert, als ihn der Befehl seines Obersten erreichte, sich nach Westen zu wenden. Das Gefäß war in der Hauptstadt Aracanons gesehen worden, ein Segen, der ihn dazu veranlasst hatte, mitten in der Wildnis auf die Knie zu fallen und ein Dankesgebet für seinen Gott zu sprechen. Dass es Stilicho und seiner Bande von Idioten überlassen blieb, das Mädchen einzufangen – diese Vorstellung hingegen war unerträglich, also hatte er sich über Menschenkraft hinaus beeilt, seine wertvollen Reserven an Magie aufgebraucht, nicht gegessen und geschlafen, um rechtzeitig in der Stadt einzutreffen. Es war nicht gerade einfach gewesen, sich ungesehen Zutritt zu den Abwassergräben zu verschaffen, da es auch dort vor Wachen wimmelte, aber unter Aufwendung all seines jahrelang erworbenen Könnens war es ihm gelungen.
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