1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 Die beiden Ärzte gingen zum Fahrstuhl und drückten den Knopf für die Kantine.
»Was möchtest du?«, fragte Andy, als sie den Essensraum betreten hatten.
»Mir egal, nur eine Suppe«, sagte Peter.
»Nix da. Suppe! Du siehst schon aus wie ein Suppenkasper. Bitte zwei Mal Menü 1 und 2 Wasser.«
Das Essen war köstlich, was meistens in dieser Klinik der Fall war. Sogar Peter hatte alles aufgegessen, und Andy brachte das Gespräch wieder auf Tina Braune.
»Hast du deinen Schützling schon besucht?«, fragte er vorsichtig.
»Ja, gestern Abend noch. Aber da schlief sie. Ich habe ihr Blumen schicken lassen.«
»Oh, das ist aber nett von dir«, meinte Andy sarkastisch.
»Das wird sie sehr freuen.«
»Ja«, nickte Peter zufrieden. »Das denke ich auch.«
Und damit hast du alles wieder ins Lot gebracht, dachte Andy. Wie einfältig er doch manchmal war. Andy legte seine Hand auf den Arm seines Freundes.
»Du Peter, diese Frau hat keine Nachtwäsche und auch keinen Jogginganzug, wenn sie zur MTT muss. Du musst es ihr kaufen.« Peter schmiss den Löffel in das Dessert, dass es schepperte.
»Nein, nein«, sagte er in lautem Ton, das werde ich nicht tun! Ich habe schon Blumen gekauft. Was bildet sich diese Person bloß ein? Ich lasse mich doch nicht ausnehmen!«
»Peter, bitte beruhige dich. Sie hat gar nichts gefordert. Sie hat niemanden, der ihr die Sachen bringen könnte. Und sie hat mir heute früh gesagt, dass sie beim DRK anrufen wollte, ob die Kleidung ihrer verstorbenen Freundin noch da wäre. Das geht doch nun wohl gar nicht. Die Kleiderkammer soll die Sachen wieder rausrücken? Wie peinlich.
Kauf ihr zumindest Unterwäsche und zwei Nachthemden. Und eine Zahnbürste.« Peter wurde rot im Gesicht.
»Ich soll ihr Unterwäsche kaufen?‘«
Andy legte seinen Zeigefinger auf den Mund.
»Peter, schrei doch nicht so!«
»Ich schreie so viel ich will. Impertinent das Ganze! Okay, du hörst ja doch nicht auf. Hier sind 50 Euro. Gib sie einer Praktikantin, damit sie was einkauft. Und nenne diesen Namen Braune nie wieder in meiner Gegenwart!« Die anderen Kollegen und Schwestern, die sich in der Kantine befanden, achteten schon gar nicht mehr auf die lauten Ausbrüche von Dr. Weber. Sie kannten es schon.
Andy nahm die 50 Euro und sah ihn über den Rand seiner Brille an: »Mein lieber Freund, du hast Frau Braune in diese Lage gebracht. Du! Und du hast dich um sie zu kümmern, bis sie wieder vollkommen gesund ist.«
Schnell hielt er mit beiden Händen den Pudding seines Freundes fest. Er riskierte, dass der Chefarzt Dr. Weber so außer Kontrolle geriet und ihn den Pudding samt Schale ins Gesicht schleudern würde.
Als sich Tina, frisch gewaschen, das letzte Stückchen Brötchen in den Mund steckte, schaltete sie den Fernseher an. Sie wählte alle Programme durch, aber es war nichts dabei, was sie interessieren könnte. Sie war ohnehin kein großer Fernseh-Fan. Ein Mädel kam, räumte das Tablett ab und stellte Tina eine Karaffe Wasser und ein Glas hin.
Und was nun?, dachte Tina. Sie legte ihren Kopf in den Nacken und wollte ein wenig schlafen. Was sollte man sonst hier tun? Aber es klappte nicht.
Sie nahm ihre Handtasche und stöberte darin. Die müsste wohl mal aufgeräumt werden! Also kippte sie den gesamten Inhalt auf ihre Bettdecke. Einige Geldmünzen sammelte sie ein und steckte sie in die Geldbörse. Dann waren da diverse trockene Kräuter, die sie einsammelte, noch einmal betrachtete und dann wegwarf.
Und dann war da ein Foto von ihr und Marie. Arm in Arm saßen die beiden auf einer Wiese unter einem Apfelbaum. Sie hatten dort ein Picknick gemacht. Tina konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.
»Marie, sieh doch nur, ich brauche dich nun. Ich bin so alleine. Warum musste das denn bloß passieren? Wenn ich dich doch nur noch hätte! Sieh nur, ich liege hier in einem Totenhemd. Hinten ist es offen. Mit langweiligen blauen Blüten, immer dieselben Blüten.
Und der Slip! Ein Netzhöschen! Ich will zu dir, Marie. Bitte hole mich doch. Bitte Marie. Oder besorge mir Klamotten. Ich mag einfach nicht mehr. Dieser blöde Kerl ist an allem schuld. Gib mir doch ein Zeichen, meine Marie. Zeige mir, dass du bei mir bist.«
Tina schnäuzte sich die Nase wischte sich die Augen. So unglücklich wie heute war sie noch nie.
Es klopfte an der Tür. Tina schaute erstaunt, als sie sich öffnete. Eine Krankenschwester stand dort mit Blumen. Sie waren in Papier eingewickelt, aber Tina erkannte es sofort. Meine Firma, dachte sie. Die schicken mir Blumen. Woher wissen die es nur?
Die Schwester holte eine Vase und verließ das Zimmer. Marie packte die Orchideen aus. Sie nahm den kleinen Umschlag und las »Zimmer 8« auf der Vorderseite. Dann öffnete sie ihn und schmiss ihn umgehend in die Ecke des Zimmers. So ein Schuft! Schickte der ihr Maries Kinder!
So nannte sie ihre Züchtungen immer, weil sie ihnen ja das Leben geschenkt hatte. Diese hier waren besonders schön, weil sie neben der roten Lippe zwei Augen hatten. Marie war so stolz auf sie. Nein, diese Blumen wollte sie nicht. Sie wollte sie gerade in den Mülleimer werfen, als sie innehielt.
Sie hatte um ein Zeichen gebeten, und just in diesem Moment wurden ihr die Kinder von Marie gebracht. Die sind gar nicht von ihm, die sind von Marie. Er ist nur der Vermittler. Liebevoll stellte sie die schönen Blüten ins Wasser.
Allein der Gedanke daran, dass Marie sie einmal in ihren Händen gehabt hatte, ließen die Blüten nun noch wertvoller erscheinen. Wieder kamen ihr die Tränen.
»Wie sehr ich dich vermisse, meine Marie. Wo bist du denn nur?« So viel geweint wie in der letzten Zeit hatte sie in ihrem ganzen Leben nicht. Buddhas Worte konnten auch nicht trösten.
7.
Marie saß auf einer großen Sonnenblume und schaukelte dort hin und her. Martha hatte sie schon lange nicht mehr gesehen. Sie dachte viel an Tina, konnte sie aber nicht sehen. Andere Personen, wie zum Beispiel ihr Mütterlein, sah sie. Sie freute sich immer, wenn sie die alte Frau wieder lachen hörte. Das war auch gut so, aber wo war Tina?
Marie war schon ein paar Mal in ihrer Wohnung gewesen, aber da war sie nicht. Es sah so aus, als ob sie verreist wäre. Aber alle ihre Sachen waren noch da. Sie spürte, dass etwas nicht stimmen konnte.
Tina rief sie. Warum konnte sie nicht zu ihr durchkommen. Wo war Martha denn bloß? Sie ging ganz tief in sich und rief Martha zu sich. Da, ein Blatt wirbelte durch die Luft, und Martha stand vor ihr.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Martha, es stimmt etwas nicht. Ich weiß, dass mit Tina was nicht stimmt.« Ihre Freundin schaute sie lieb an.
»Marie, wir können auf der Erde nichts mehr tun. Wir sehen nur das Gute, das weißt du doch. Bestimmt geht es Marie gut. Vielleicht hat sie einen Mann kennen gelernt und ist ein paar Tage bei ihm. Es gibt viele Gründe. Es muss nichts passiert sein, und du weißt das auch.« Ja, Martha hatte recht.
»Wollen wir noch mal zu unseren Gräbern?«, fragte sie nun. »Marie, wir waren doch schon oft da. Es ist alles in Ordnung. Lass uns zu den Wolken hinauf fliegen und uns treiben lassen.«
»Bitte Martha. Mit dir ist es besser. Ich habe so ein mulmiges Gefühl wegen Tina. Da ist es gut, du bist bei mir. Tust du es für mich?«
»Okay, denn man los.« Schnipp, und schon waren sie da. Wie wunderschön die Blumen blühten. Auf beiden Gräbern.
»Siehst du, alles ist wunderbar. Das würde so nicht aussehen, wenn was nicht stimmen würde.« Marie starrte auf eine Stelle hinter dem Kreuz mit ihrem Namen. Dort lag ein vertrockneter Kranz aus Wildblumen. Der kam von ihrer Kräuterhexe, das sah sie sofort.
»Ich wusste, dass da was nicht stimmt. Niemals hätte Tina den Kranz so dahin geschmissen. Nie!«
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