Plymmie bedeutete eine gemeinsame Erinnerung, die Philip und Hasard mit ihrem Vater verband. Eine von vielen Erinnerungen, die nun aber, in dieser schmerzlichen Lage, ihr besonders Gewicht gewann.
Die Wolfshündin war eine getretene und mißhandelte Kreatur gewesen, als die beiden Jungen damals in Finnland auf sie aufmerksam geworden waren. Sie hatten das gepeinigte Tier gerettet, hatten es aufgepäppelt und gepflegt und schließlich mit ihrer Überzeugungskraft durchgesetzt, daß die Hündin an Bord der „Isabella“ bleiben durfte. Ohne daß sie es in jenem Moment selbst wußten, hatten Philip und Hasard so gehandelt, wie es der Wesensart ihres Vaters entsprach.
Denn auch für den Seewolf standen an erster Stelle aller Überlegungen stets Gerechtigkeit und Fairneß, Ritterlichkeit selbst dem hinterlistigsten Feind gegenüber.
Ein neuer, harter Zug hatte sich in die Gesichter der beiden Jungen gegraben, seit sie wußten, daß ihr Vater vermißt wurde. Aber sie waren darüber nicht in Wehklagen ausgebrochen. Sie hatten die Trauer und den Schmerz erduldet, wie es auch ein erwachsener Mann an ihrer Stelle getan hätte. Ja, mit ihren dreizehn Jahren waren sie ernster und reifer geworden, und vieles von ihrem kindlichen Wesen war längst verblaßt.
Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als die beiden Jollen der „Isabella“ den Strand erreichten. Während die Männer ins seichte Uferwasser sprangen und die Boote höher an Land zogen, gab es für Plymmie eine kleine Wiedersehensfeier.
Arwenack, der Schimpanse, war als erster an Land gesprungen und hüpfte mit hellem Keckern auf die Hündin zu. Plymmie verharrte, blickte ihm schwanzwedelnd entgegen und nahm dann blitzartig Reißaus, als er zähnefletschend den wilden Mann markierte und sie mit seinen langen Armen umfangen wollte.
Eine rasante Verfolgungsjagd begann, bei der Plymmie endlich einmal im Vorteil war, da es auf dem Strand keine Masten und keine Takelage gab, in die sich ein geschickter Kletterer wie Arwenack flüchten konnte.
Sir John, der Papagei, stieg zeternd von der Schulter des Profos auf und begleitete die Tollerei der beiden Gefährten mit schrillen Rufen.
„Affenärsche! Bilgenratten – Haut in Streifen abziehen – Kakerlaken – teeren und federn!“
Edwin Carberry und die anderen blieben einen Moment vor den Booten stehen, um das Schauspiel zu beobachten.
„Ho, nun seht euch das Viehzeug an!“ rief der Profos der „Isabella“ dröhnend. „Wenigstens die haben was, worüber sie sich freuen können.“
Die Männer lächelten. Rechte Heiterkeit wollte nicht aufkommen. Zu sehr steckte ihnen in den Knochen, was geschehen war. Am schlimmsten von allem war die Tatsache, den Seewolf nicht mehr in der Mitte des Bundes der Korsaren zu wissen. Gewiß, ihr Leben mußte weitergehen. Sie mußten ihren Feinden die Zähne zeigen, um sich zu behaupten.
Aber Philip Hasard Killigrew würde niemals vergessen werden.
Während Plymmie, Arwenack und Sir John weiter ihr lautstarkes Spiel trieben, versammelten sich die Schiffsbesatzungen und die Verteidiger der Schlangen-Insel am Strand. Diesmal nahmen alle teil, die Lagebesprechung war nicht den Repräsentanten des Bundes der Korsaren vorbehalten.
Als erste hatten die „Wappen von Kolberg“ und die „Empress of Sea“ in der Bucht festgemacht. Bald darauf waren auch die weiteren Schiffe des Bundes eingetroffen und hatten ihre angestammten Liegeplätze eingenommen – die „Tortuga“, die „Pommern“, die „Caribian Queen“, der Schwarze Segler und die „Isabella“. Dort indessen, wo sonst die „Le Vengeur“ vertäut gewesen war, lag jetzt die dreimastige Schebecke, die einst dem Algerier Mubarak gehört hatte.
Don Juan de Alcazar und seine Männer traten zum ersten Male in den großen Kreis der Männer und Frauen. Von diesem Tag an waren sie vollwertige Mitglieder des Bundes der Korsaren, und da gab es nicht einen einzigen mißtrauischen Blick, der sich etwa auf sie gerichtet hätte.
Arkana, die Schlangenpriesterin, ergriff als erste das Wort und schilderte die Verluste, die man bei der Verteidigung der Insel hatte hinnehmen müssen. Mehrere ihrer Kriegerinnen und Krieger waren bei der Abwehr des Landeunternehmens gefallen.
„Ich will dies aber nicht in den Vordergrund stellen“, sagte Arkana. „Wir alle wußten, daß mit einem Blutzoll zu rechnen sein würde. Was jedoch am schwersten wiegt, ist der Verlust Hasards. Bis an unser eigenes Ende werden wir nicht aufhören, seiner zu gedenken. Das gilt auch für jene Männer, die auf der ‚Le Vengeur‘ gestorben sind. Ich denke, jeder von uns kann nachempfinden, wie sich Jean Ribault jetzt fühlt.“
Der schlanke Franzose winkte ab und schüttelte den Kopf.
„Trübsal zu blasen hat keinen Zweck“, sagte er energisch. „Der Kampf ist noch lange nicht vorbei. Old Donegal hat gemeldet, daß der spanische Verband in der östlichen Bucht von Grand Turk vor Anker gegangen ist. Also haben die Dons noch nicht aufgegeben. Denn sonst wären sie schleunigst westwärts gesegelt. Das ist der Punkt …“ Jean Ribault brach ab, denn die Aufmerksamkeit galt plötzlich nicht mehr ihm.
Es war Araua, die aus der Mitte der Kriegerinnen und Krieger nach vorn trat. Die Tochter der Schlangenpriesterin bewegte sich mit seltsam gemessenen Schritten, fast wie eine Schlafwandlerin. Auch ihr Gesichtsausdruck bestärkte dies. Wie geistesabwesend, den Blick in eine unendliche Ferne gerichtet, verharrte sie in der Mitte der Versammlungsrunde.
„Sie befindet sich in Trance“, flüsterte Jean Ribault seinem Nebenmann, Don Juan de Alcazar, zu. „Sie hat ähnliche Fähigkeiten wie ihre Mutter.“
Don Juan wandte den Kopf und sah den Franzosen fragend an. Aber es gab keine Gelegenheit, sich weiter mit übersinnlichen Erscheinungen zu beschäftigen.
Denn Araua hob jetzt wie beschwörend die Arme. Ihre Stimme klang wie aus einem hohlen Raum.
„Ich spüre es, ja ich spüre es sehr deutlich – die Willenskraft des Seewolfs, die Botschaft seiner Seele. Ich fühle, daß er mir etwas mitteilen möchte, es uns allen mitteilen möchte – er ist nicht tot! Nein, er ist nicht tot! Philip Hasard Killigrew lebt!“
Die letzten Worte hatte sie wie einen Schrei ausgestoßen.
Im nächsten Moment schien alle Kraft aus Araua zu weichen wie nach einer unendlichen Anstrengung. Arkana lief auf sie zu und schloß sie in die Arme, bevor sie in sich zusammensinken konnte. Dann führte die Schlangenpriesterin ihre Tochter in den Kreis der anderen zurück.
Noch minutenlang herrschte völlige Stille. Ergriffen blickten die Männer auf das schlanke junge Mädchen, dessen Prophezeiung neue Hoffnung in ihnen geweckt hatte. Aber sie wußten auch, daß sie sich an diese Hoffnung nicht klammern durften.
„Es ist wahr“, flüsterte Old Donegal Daniel O’Flynn. „Araua kennt die Wahrheit.“ Keiner der anderen sah ihn in diesem Augenblick spöttisch an, wenn er auch vielleicht der einzige war, der fest und unerschütterlich an die übersinnlichen Fähigkeiten des Mädchens glaubte, das die Tochter des Seewolfs war.
Jean Ribault war es, der die Aufmerksamkeit schließlich wieder auf das Vordringliche lenkte.
„Wir können trotz allem die Hände nicht in den Schoß legen“, sagte er heiser. „Ich wiederhole: Der entscheidende Punkt ist, daß die Spanier bei Grand Turk vor Anker liegen. Wir sollten als nächstes erörtern, was wir unternehmen wollen. Bevor wir das tun, so meine ich, sollten wir aber die neuen Mitglieder willkommen heißen.“
Beifall wurde laut.
Jean Ribault nickte Don Juan aufmunternd zu.
Der hochgewachsene Spanier lächelte und forderte seine Männer auf, gemeinsam mit ihm vorzutreten. Nacheinander stellte er Ramón Vigil und die Decksleute der Schebecke vor. Zum Schluß schilderte er mit knappen Worten seine eigene Geschichte und begründete seinen Entschluß, auf die Seite des Mannes überzuwechseln, den er eigentlich hatte jagen und zur Strecke bringen sollen.
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